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03.04.2024

Buchtipp: Jugendstil in Berlin

Rückkehr ins kulturelle Gedächtnis


Berlin steht für vieles. Mit all ihren Schichten und Überlagerungen, Brüchen und Narben gilt die Stadt als Metropole der Moderne, des Wilhelminismus, der Schinkelzeit, der nationalsozialistischen Planungen und der Nachkriegsmoderne. Als Zentrum des Jugendstils in Deutschland wurde die Stadt hingegen bislang kaum wahrgenommen. Das liegt auch an den großen Verlusten durch Kriegszerstörung, späteren Abriss oder das Abschlagen kompletter Stuckfassaden. Präsent sind lediglich vereinzelte Bauwerke, darunter die Hochbahnstation Bülowstraße, die Hackeschen Höfe oder ein beeindruckendes Wohnhaus am Steinplatz.

Nun hat die Historikerin und Bibliothekarin Birgit Ströbel mit ihrer Publikation Jugendstil in Berlin. Künstler – Räume – Objekte dieses lang verdrängte Wissen ins kulturelle Gedächtnis zurückgeholt. Ihre erhellende Bestandsaufnahme ist eine ebenso umfassende wie anschauliche und bezugreiche Darstellung jener dynamischen Epoche der Baukunst um 1900 in der deutschen Reichshauptstadt, die Teil der internationalen Bewegung auf der Suche nach neuen Formen war.

In Abgrenzung zum Historismus des 19. Jahrhunderts und beeinflusst von den reformerischen Gestaltungsideen der Arts-and-Crafts-Bewegung, entfaltete sich die neue Stilrichtung – Art Nouveau in Frankreich und Belgien, Modern Style in England, Secessionsstil in Österreich, Stile Floreale in Italien, Jugendstil in Deutschland – zwischen 1890 und 1914 überall in Europa. Zu den Merkmalen des neuen Stils, der alle Bereiche der Kunst und des Lebens durchdringen sollte, gehörte ein ungewohnter Umgang mit Proportionen und Flächen, die Betonung der Linie, die Aufwertung der Farbe, eine vegetative Ornamentik sowie die Verwendung neuer Konstruktions- und Dekorelemente aus Eisen, Glas oder Keramik. Besonders die Entwicklung der Formen aus Material und Funktion sowie die Forderung nach „Materialgerechtigkeit“ verdeutlichen die Rolle des Jugendstils als Wegbereiter der Moderne.

Wie anders die neuen Formen an der Wende zum 20. Jahrhundert auf die Zeitgenoss*innen gewirkt haben, „welches Erstaunen, welche Provokation, welche Verzauberung oder auch Verwirrung Häuser, Wohnungen oder auch Möbel im Jugendstil um die Jahrhundertwende auslösten“, skizziert Ströbel gleich zu Beginn ihres Buches. Dass Berlin in der Ära zwischen 1897 und 1907 ein lebendiger Mittelpunkt des Jugendstils war, wird schon durch die personellen Überschneidungen mit den bekannten Jugendstilzentren München, Darmstadt oder Weimar deutlich, die mit den Namen August Endell, Otto Eckmann, Peter Behrens und Henry van de Velde eng verknüpft sind. Zusammen mit Bruno Möhring, Alfred Grenander und Theodor Schmuz-Baudiß gehörten sie zu den prägenden Architekten und Künstlern, deren Bauten und Interieurs im Erscheinungsbild der Stadt wirkten.

Die unterschiedlichen Protagonisten und ihre Werke werden im ersten Teil des Buchs in sieben Einzelkapiteln differenziert vorgestellt. Biografisch eingeordnet werden auch die Entwicklungen und Wirkungsorte jenseits der jeweiligen „Berliner Jugendstilphase“, die allerdings den Schwerpunkt bildet. Der zweite Teil der Publikation umfasst ein Panorama von Jugendstilwerken, die sich den Zeitgenossen im öffentlichen oder im privaten Raum boten und deren Vielzahl und Qualität die Bedeutung Berlins als Stadt des Jugendstils dokumentiert.

Wenn auch der größere Teil der vorgestellten Verkehrsbauten, Theater, Miets- und Warenhäuser, Ladengeschäfte, Restaurants, Kunstsalons oder Privatwohnungen heute verschwunden ist, so bietet die Lektüre doch zahlreiche Entdeckungen, legt verschüttete Zusammenhänge wieder frei, weckt Interesse an der Vergangenheit und Aufmerksamkeit für die Gegenwart. Denn nicht wenige Jugendstilbauten, die Kriegs- und Nachkriegszerstörungen überstanden haben – darunter das Rathaus Charlottenburg von Reinhardt & Süssenguth, das Stadtbad in der Krummen Straße von Paul Bratring oder die S-Bahnstation Mexikoplatz des Büros Hart & Lesser – sind bis heute Teil des Berliner Stadtbilds. Und einige Interieurs jener Zeit lassen sich im Stadtmuseum und im Bröhan-Museum bewundern.
 
Text: Ulrike Alber-Vorbeck

Jugendstil in Berlin. Künstler – Räume 
Objekte
Birgit Ströbel
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2023
ISBN 978-3-422-80068-7
52 Euro


Zum Thema:

Über das Leben und Werk von Henry van de Velde berichteten wir 2013 in Baunetzwoche#315.


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Paul Friedrich Bratring, Städtische Badeanstalt Charlottenburg, Zustand nach der Sanierung 1974/1976

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August Endell, Hackesche Höfe, Weinrestaurant Neumann, 1906

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Henry van de Velde, Einrichtung des Friseursalons Haby, Mittelstraße 7, 1901, Aufnahme in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Berlin

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Bruno Möhring, Pylon vor dem Hochbahnhof Bülowstraße, Berlin-Schöneberg, 1902 (Foto aus dem Band)

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