Architekturführer dienen vordergründig praktischen Zwecken, aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit: Gerade wenn Architekten beteiligt sind, bekommt ihre Auseinandersetzung mit dem Werk der Kollegen oft einen programmatischen Charakter. Traditionslinien werden entwickelt, Verortungen werden vorgenommen, und jedes aufgeführte Gebäude wird auch zu einem Argument für die eigene architektonische Haltung.
Ganz bestimmt galt dies für Rolf Rave und Hans-Joachim Knöfel, die 1963 ihr berühmtes „Bauen seit 1900. Ein Führer durch Berlin“ herausbrachten. Der Optimismus jener Zeit kam im knalligen Orange des Covers zum Ausdruck, das die Auflage von 1968 zierte. Und als zwanzig Jahre später ihr „Bauen der 70er Jahre“ erschien, war klar, dass sich hinter dem zarten Blau des Einbands auch die Gewissheit verbarg, mit der eigenen Architekturpraxis jener Jahre auf der richtigen, auf der progressiven Seite gestanden zu haben. Dass diese Haltung beim dritten, grünen Band, „Bauen seit 1980“, nicht mehr erkennbar ist, war nicht ihre Schuld. Trotz Ende des Kalten Krieges war der Gesellschaft und ihrer Architektur der Zukunftsglauben da längst schon abhandengekommen.
Mit dem fundamentalen Paradigmenwechsel, der sich mit der Abkehr von der Moderne seit der ersten Veröffentlichung vollzogen hat, beschäftigt sich nun ein vierter Band der Reihe, der passenderweise in kraftlosem Grau-Beige daherkommt – oder doch nicht? „Retrospektiv Bauen in Berlin“ verspricht der Titel in den typischen Versalien der Rave Knöfels, und auch die strenge Ordnung – jeweils vier Bauten pro Doppelseite mit Foto, Zeichnung und Kurzbeschreibung – ist wie gehabt. Und doch stimmt etwas nicht mit diesem Buch, was durch eine Schnittmarke auf dem Cover dezent angezeigt wird: Erst wer selbst zur Schere greift und das Format stutzt, erhält wirklich einen der kleinen Architekturführer. Es handelt sich hier um eine mimikryhafte Annährung an das Original, die Verena Hartbaum als eine der letzten Veröffentlichungen der inzwischen ebenfalls legendären Disko-Reihe von Arno Brandlhuber und Silvan Linden verfasst hat.
Das Buch wird damit zu einem treffenden Sinnbild für seinen Gegenstand: das Bauen mit Blick in den Rückspiegel. War früher nicht alles besser, in der Architektur, aber eben auch in der Welt der Architekturführer? Anhand von 264 realisierten Projekten dokumentiert Hartbaum umfassend, wie sehr sich das Berliner Baugeschehen nun schon seit Jahrzehnten an der Vergangenheit orientiert. Nachdem das Thema bisher oft Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe war, die sich bei Knöfel und den Raves höchstens fragmentarisch angedeutet hatten, bekommt es nun eine empirische Dimension – und man ahnt zugleich: Es dürften noch viel mehr Gebäude sein, die im retrospektiven Geist der letzten Jahrzehnte entstanden sind.
Retrospektiv, das meint keine denkmalpflegerisch genaue Rekonstruktion, sondern allein ein Bauen, dass sich vage an historischen Vorbildern orientiert – und zwar nicht nur mit Blick auf das untergegangene Preußen der Kaiserzeit, sondern auch an der Formensprache der klassischen Moderne. Interessant ist dabei, wie sehr sich die architektonischen Resultate dieser Retrospektion, deren Beginn Hartbaum mit dem Denkmalschutzjahr 1975 ansetzt, unterscheiden. Typologisch ernst und in der Form modern in den frühen Jahren, dann fröhlich zitierend während der IBA, steinern und orthodox als Hans Stimmanns Staatsdoktrin nach der Wende und schließlich mit zuckrig-künstlicher Detailversessenheit als Teil der heutigen „Portfolio-Architektur“. Im Immobilienkommerz der Gegenwart mit seinem Versprechen von Exklusivität findet schließlich auch die Projektion „anachronistischer Gesellschaftsordnungen“ ihre Erfüllung, die als Teil des bürgerlichen Wohnens plötzlich wieder separate Dienstbotenaufgänge denkbar werden lässt.
Verena Hartbaum versteht ihr Buch in Abgrenzung zum authentischen Bemühen der Rave-Knöfel-Bände, deren Verfassern sie ihren Führer gewidmet hat, bestenfalls als kritischen Kommentar. Doch ganz richtig ist dies nicht, denn ihr Band hat selbst das Zeug zu einem Standardwerk: als bisher vielleicht umfassendste Dokumentation eines bedrückenden gesellschaftlichen Trends und seines Niederschlags in der Architektur. Es hilft, dass Hartbaum wertungsfrei sammelt und sich allzu simpler Erklärungsversuche enthält. Denn natürlich geht es ihr nicht darum, historische Bezüge in der Architektur per se zu verurteilen, sondern das Phänomen in seiner ganzen Vielseitigkeit darzustellen.
Wie umfassend und epochenunabhängig sich das retrospektive Sehnen schon durch unsere Gesellschaft und ganz konkret bis in den Untergrund gefressen hat, zeigt eines der jüngsten ihrer Beispiele, das vielleicht sogar zu den schockierendsten in ihrem Führer gehört. Wenn nämlich – wie aktuell gerade bei der U-Bahnhof Sanierung der Linien 7 und 9 durch die Verkehrsbetriebe – ohne Not die originale Substanz aus den Siebzigerjahren zerstört wird, um stattdessen ein vollkommen beliebiges Zwanzigerjahre-Pasticcio zu installieren, dann wird deutlich, dass, was zunächst als durchaus legitime Wertschätzung des historischen Erbes begann, sich als Farce längst in ihr Gegenteil verwandelt hat.
Text: Stephan Becker
Retrospektiv Bauen in Berlin seit 1975
Disko 27 von Verena Hartbaum
AdbK Nürnberg, 2017
204 Seiten, durchgehend bebildert
ISBN: 978-3-940092-06-9
Vertrieb: Books People Places
15 Euro
Das Buch ist direkt bei Books People Places und im gut sortierten Fachhandel erhältlich.
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Hans Peters | 20.12.2017 11:47 UhrSehr gelungen
Eine sehr gute Ergänzung zu den Originalen. Gab es gestern übrigens auch bei Bücherbogen.