Am Bauhaus-Jubiläumsjahr kommt niemand vorbei. Baunetz möchte wissen, wie Architekten, Designer und Kulturschaffende heute über die vor einhundert Jahren gegründete Schule und ihre Auswirkungen denken. Mit dem Architekten Reinier de Graaf, Partner bei OMA, sprachen wir über das Leben im Plattenbau, beinahe nichts und Mies-Kopien.
Herr de Graaf, was ist Bauhaus für Sie heute?
Reinier de Graaf: Die Mission des Bauhauses ist aktueller als jemals zuvor. Vor allem was die Fertigbauweise betrifft, beginnend mit dem Wohnungsbauprogramm in Ostdeutschland. Das wurde von Bauhaus-Architekten entwickelt, die aus Nazi-Deutschland nach Russland geflohen waren. Als sich die Stimmung hin zur Moderne verlagerte – 'besser, billiger, schneller' war ihr Slogan – kamen sie zurück. Ostdeutschland wurde das Labor für ihre Experimente: WBS70 und so weiter. Mies hat mal gesagt: 'Es wird eine Zukunft geben, in der die Industrie die Probleme für uns lösen wird.' Das Bauhaus wollte die Industrie immer für einen größeren gesellschaftlichen Zweck, ein höheres Ziel nutzen.
Die Platte hat heute ein ziemlich schlechtes Image ...
Ich bin im Plattenbau aufgewachsen, bin sozusagen ein Produkt des Plattenbaus. Viele denken: Die Menschen würden Wohngebiete wie Berlin-Marzahn als entfremdend erleben. Für mich waren sie das nie. Im Gegenteil, sie fühlen sie sich sehr vertraut an, auch weil die Gebäude so gleich aussehen. Es ist eine Art Gleichberechtigung. Ich mag ihre Ästhetik, die radikale Extraktion einer Idee und jeder physischen Form. Eine Art zu denken, die kaum noch existiert.
Sie haben vor einer Weile gefordert, Architekten müssten wieder politischer werden, sich und ihre Arbeit hinterfragen. Warum?
Es ist an der Zeit, dass sich der Berufstand selbst mal unter die Lupe nimmt und entscheidet, was und wie er denn sein will. Wir sollten überdenken, welche Aussage wir mit unseren Bauten eigentlich treffen. Manchmal widerspricht die eigene Haltung dem modernen Erscheinungsbild der Entwürfe. Deshalb sollten wir zweimal nachdenken, bevor wir unsere Bauten als moderne Architektur bezeichnen. Ich schließe mich davon nicht aus. Denn das ist es auch, was Bauhaus bedeutet: Es hat die damals übliche Sicht auf die Welt hinterfragt, daraus eine neue Architektur entwickelt. Es ist an der Zeit, dass wir das wieder tun, anstatt die Standardmodi fortzuführen, die wir seit Ewigkeiten beibehalten.
Gropius, Meyer oder Mies?
Ich bin riesengroßer Mies-Fan. Vom ersten Moment an, als ich seine Bauten sah – ich war wie hypnotisiert. Während meiner ersten Jahre als Student waren alle meine Entwürfe Mies-Kopien. Ich mag die Aphorismen, die er geprägt hat: Als er das Farnsworth House beschrieben hat mit: almost nothing – beinahe nichts. Ich liebe das, weil 'beinahe nichts' fast nichts ist. Aber 'fast nichts' ist meilenweit von 'nichts' entfernt. Und tatsächlich würde ich sagen, dass der Unterschied zwischen viel und nichts kleiner ist, als der Unterschied zwischen nichts und fast nichts. Ich glaube, das war das ganze Genie dieser Bewegung.
Die Fragen stellte Katrin Groth.
Zum Thema:
Als Partner bei OMA stellte Reinier de Graaf in der Praxis zuletzt den Wohnturm Norra Tornen in Stockholm fertig. Sein 2017 erschienenes Buch „Four Walls and A Roof“ vermittelt amüsante Einblicke in die komplexe Natur des Architektenberufes.