- Weitere Angebote:
- Filme BauNetz TV
- Produktsuche
- Videoreihe ARCHlab (Porträts)
14.10.2020
Buchtipp: Kritische Geschichte
Race and Modern Architecture
Die explizite Verwendung des anthropologisch veralteten und genetisch widerlegten Rassebegriffs ist dabei programmatisch zu sehen: Es geht ihnen um die soziale Konstruktion von Rassen als Mittel der Unterteilung und Kategorisierung von Menschen – und um die Machstrukturen, die sich auf dieser Basis entfalten lassen. Genau diese verdrängten Aspekte möchten sie der offiziellen Geschichte der Moderne nun wieder einschreiben. Das klingt abstrakt, führt aber architekturtheoretisch gleich mitten hinein ins Thema. Die europäische Aufklärung als Ausgangspunkt des Fortschrittsdenkens der Moderne muss nämlich primär als „weiße“ Aufklärung verstanden werden, die sich vor allem in negativierender Abgrenzung zu anderen Kulturräumen entwickelt hat. Von kruden rassistischen Zuschreibungen zur Herabsetzung bestimmter architektonischer Typologien und Stile ist es dann beispielsweise bei Viollet-le-Duc nicht weit, wie Irene Cheng es in ihrem Essay zum strukturellen Rassismus in der modernen Architekturtheorie beschreibt. Was dann zunächst ein Fall von historischer akademische Sinnsuche zu sein scheint, bekommt in den frühen Vereinigten Staaten von Amerika schnell eine schreckliche praktische Dimension: Der ideologische Bezug der jungen Nation auf die europäische Aufklärung und ihre Freiheitsideale erlaubte nämlich auch dank solcher rassistischer Einschreibungen das offenkundige Paradox, für die Errichtung der Symbole dieses freiheitlichen Staates auf Sklavenarbeit zurückzugreifen – bei Thomas Jeffersons palladianischem Virginia State Capitol beispielsweise, oder auch beim Weißen Haus.
Das Buch zeichnet sich – der Titel legt es nahe – größtenteils durch einen explizit historischen Zugang aus. Wichtige aktuelle Herausforderungen wie die mangelnde Repräsentation von People of Color im heutigen Berufsleben oder in architekturbezogenen Sammlungen wie der des MoMA lassen sich in diesem Rahmen nur am Rande berühren. Dafür wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven und Kontexten untersucht. Dianne Harris blickt beispielsweise anhand von Architekturfotografien auf die mediale Konstruktion eines idyllischen weißen Vorstadtlebens, das nichts wissen will von der Ausbeutung nichtweißer Menschen, die ein solches Leben im Wohlstand erst ermöglicht. Und im Kapitel „Race and Colonialism“ zeigen die Autor*innen, wie von Rassismen strukturiertes Denken auch die Arbeit vieler lokaler Architekt*innen – hier am Beispiel einer sogenannten „tropischen“ Architektur – prägte. Kenny Cupers gelingt dabei im Kapitel „Race and Nationalism“ anhand eines deutschen Beispiels der wichtige Perspektivwechsel, dass natürlich auch die Konstruktion der eigenen Identität dem Denken in Rassen unterliegt – etwa bei agrarischen Modernisierungsprozessen in Preußen. Skurril, wenn dann, wie Cupers darlegt, eine vermeintlich originär deutsche Architektur – geprägt durch Klima und Volkscharakter – plötzlich als bauernhofartiges Gefängnis in den Kolonien auftaucht. Dass auch die jüngste deutsche Vergangenheit von strukturell rassistischem Denken nicht frei ist, ergänzt Esra Akcan mit Blick auf die Kreuzberger IBA-Geschichte, was sich ausführlich in ihrem Buch „Open Architecture“ nachlesen lässt.
Mit der Wahl ihrer Themen, die einen großen Zeitraum absteckt, zeigen die Herausgeber*innen nicht nur, wie eng verwoben moderne Architektur und rassisch geprägtes Denken sind. Was ebenfalls deutlich wird, ist, wie sehr solches Denken auch selbst vom aktuellen sozialen Kontext beeinflusst wird. Das reicht bis zum Architekturdiskurs der Nachkriegszeit, der gerade in seinem redlichen Bemühen, das Thema Rasse zu vermeiden, neue Blindstellen schafft. Bestehende Machtverhältnisse verschwinden jedenfalls nicht, nur weil man nicht mehr über sie spricht. Um so wichtiger war und ist denn auch die Arbeit von Künstlern und Designern wie Noah Purifoy, dem Lisa Uddin einen der letzten Texte des Buches widmet. Im rassisch segregierten Los Angeles der 60er Jahre entwickelt er mit seinem „Junk Modernism“ eine alternative Erzählung innerhalb der meist weißen kalifornischen Moderne. Uddin erkennt hier einen „radikalen schwarzen Humanismus“, der für Purifoy selbst allerdings nur eine Art prekäre Übergangslösung sein konnte, wie er sinngemäß in einem Brief schreibt. Mit Purifoy eröffnet sich aber eine spannende gestalterische Perspektive, die über die historischen Ansätze von Race and Modern Architecture hinausweist. Ansonsten gilt: Der über 400 Seiten starke Band gehört nicht nur in jede Bibliothek, sondern muss auch ein fester Bestandteil des architektonischen Theorie-Curriculums werden.
Text: Stephan Becker
Race and Modern Architecture
A Critical History from the Enlightenment to the Present
Irene Cheng, Charles L. Davis II, Mabel O. Wilson (Hg.)
438 Seiten, Englisch
University of Pittsburgh Press, Pittsburgh 2020
ISBN 978-0-8229-6659-3 (Paperback)
ISBN 978-0-8229-4605-2 (Hardcover)
Preis: 38,95/57 Euro
Mit Dank an Luise Rellensmann.
Kommentare:
Meldung kommentieren
Das Virginia State Capitol in Richmond wurde vom späteren US-Präsidenten Thomas Jefferson and Charles-Louis Clérisseau gestaltet und unter anderem mit Hilfe von Sklavenarbeit errichtet. Courtesy University of Pittsburgh Press
Ein Aquarell des Architekten Benjamin Henry Latrobe zeigt Sklavinnen bei der Rodung von Waldflächen für neue Bauvorhaben. Courtesy University of Pittsburgh Press
Heteronormatives, weißes Familienglück im U.S. Gypsum Research Village. Das Haus stammt von Hugh Stubbins, das Foto von Hedrich Blessing Photographers. Dianne Harris sorgt für eine kritische Einordnung moderner Medienstrategien im Kontext der noch von offenem Rassismus und Segregation geprägten 50er Jahre. Courtesy University of Pittsburgh Press / Hedrich-Blessing Collection, Chicago History Museum
Bildergalerie ansehen: 10 Bilder