Angesichts des Brexits gibt es in der Politik derzeit aus Großbritannien wenig Ruhmreiches zu berichten, doch in der Architektur scheinen die Briten dem Zeitgeist nicht entglitten zu sein: Die höchste britische Auszeichnung für Architektur, die RIBA-Goldmedaille 2020, wurde an Grafton Architects vergeben, und damit bekommt nun zum zweiten Mal in der 172-jährigen Geschichte des Preises ein von Frauen geführtes Unternehmen die Auszeichnung. Bislang erhielt Zaha Hadid 2016 als einzige Frau den Preis. Die diesjährige Jury, besetzt mit RIBA Präsident Alan Jones, Jo Bacon, Denise Bennetts and Graeme Hutton, gab am 2. Oktober ihre Entscheidung für das Dubliner Büro unter der Leitung von Yvonne Farrell und Shelley McNamara öffentlich bekannt.
Grafton Architects treten mit ihrer Auszeichung nicht nur in eine Linie mit der 2016 verstorbenen Hadid, sondern auch mit Größen wie Nicholas Grimshaws, RIBA-Medaillengewinner von 2019, oder früheren Preisträgern wie Neave Brown, Norman Foster, Le Corbusier, Frank Lloyd Wright und dem ersten von 1848, Charles Robert Cockerell.
Farrel und McNamara studierten zusammen in den 1970er Jahren am University College Dublin und gründeten 1978 ihr gemeinsames Büro, das sie nicht nach sich selbst, sondern nach seiner Adresse, Grafton Street in Dublin, benannten. Anstelle einer Vermakrtung ihrer Person sei es ihnen wichtig gewesen, den kollaborativen Charakter ihres Büros mit der Namensnennung zu unterstreichen. Seit 1992 sind ebenfalls Gerard Carty und Philippe O'Sullivan Partner.
Dem britischen Guardian erklärte McNamara im Zusammenhang mit der RIBA-Ernennung die Design-Philosophie ihres Büros: „Wir möchten Räume schaffen, die man nicht bewusst gestaltet, sondern sie eher wie Dinge behandelt, die einfach irgendwie passieren. (...) Anstatt an einen Raum zu denken und dann eine Struktur dafür zu finden, schaffen wir zunächst eine Struktur, und diese kreiert wiederum einen Raum.“ Der Raum als ein demokratischer Ort, der für unvorgesehene Nutzungen frei gestaltbar ist, macht eine Kernidee der Architektur von Grafton aus.
Das Dubliner Büro entwirft häufig offene Freiräume, die nach Belieben besetzt werden können: große Stufen, breite Bänke, großzügige Terrassen und breite Podeste. Unter ihren Projekten sind Bildungsbauten, darunter die London School of Economics, die Kingston University oder die School of Economics in Toulouse, die alle als einladende Räume konzipiert sind.
2018 kuratierten Grafton die Biennale in Venedig unter dem Thema Freespace, womit sie ihre Grundhaltung gegenüber dem Raum und seiner Nutzung nochmal in einem internationalen Ausstellungsformat vermittelten. „Freespace”, so sagten sie, symbolisiere den „Sinn für Menschlichkeit als Kern der architektonischen Agenda“. Neben ihrer Büroarbeit unterrichteten Yvonne Farrell und Shelley McNamara von 1976 bis 2002 am University College Dublin (UCD) und lehrten unter anderem in Lausanne, Harvard und Yale. Derzeit haben beide Professuren in Mendrisio in der Schweiz inne. (eb)
Fotos: ©RIBA, Iwan Baan
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