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13.01.2021
Buchtipp: Behelfsheim
Pragmatische Anarchie im Wohnungsbau
Wenig ist bekannt über die wohl am meisten gebaute Typologie des Zweiten Weltkriegs: Ab 1941 entstanden in Deutschland hunderttausende sogenannte Behelfsheime. Von Opfern des Luftkriegs aus Schutt zur einfachen Behausung auf Zeit erschaffen, verstetigten sich viele dieser Zweckbauten und durchliefen über die Jahre teils skurille Transformationen. Sanitäreinrichtungen und später benötigte, zusätzliche Räume wurden angebaut, die Bauten wurden an die oft sehr eigene Vorstellung vom Zuhause mit den jeweils verfügbaren Mitteln angepasst. Die Baracken erwuchsen zu hochindividuellen Miniatur-Eigenheimen.
Diese Zeugnisse der Kriegsjahre, die nicht selten in Kleingartenkolonien gebaut wurden, weichen derzeit dem Druck der Nachverdichtung. Nach Auszug oder Tod der Erstnutzer*innen werden die meisten abgerissen oder auf die Größe von Kleingartenlauben zurückgebaut. Die Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser widmen sich dem verschwindenen Phänomen mit einem klugen, im Selbstverlag erschienenen Bildband. Exemplarisch schauen sie mit dokumentarisch-sanftem Blick auf die noch existierenden, unter Erkern, Ziergauben und Putz-Patchwork häufig kaum erkennbaren Ursprungsbauten im Hamburger Raum – viele von ihnen stehen bereits jetzt schon nicht mehr.
Auch der theoretische Rahmen des Buches gibt sein Sujet an keiner Stelle einer (auf den ersten Blick vielleicht naheliegeden) Häme Preis. Architekturhistoriker Jan Engelke berichtet in einem Essay von der notwendigen Wohnraumproduktion angesichts der Bombardierung Deutschlands durch die Allierten, von dem eigens gegründeten Deutschen Wohnungshilfswerk oder von der von NS-Ideologie geprägten Rhetorik der Behelfsheimfibel, aus der sich zahlreiche Abbildungen im Buch wiederfinden. Diese Laien-Bauanleitung beschreibt penibel genau die Konstruktion des durch Hitler favorisierten „Reichseinheitstypes“ – einem Schlichthaus, das an Entwürfe des Neuen Bauens angelehnt war: Maximal 4,10 mal 5,10 Meter, lichte Höhe 2,50 Meter, einfaches Pultdach; zu errichten aus Trümmern und mit Hilfswerkzeugen.
Die Bauwerke waren reine Zweckbauten und als Provisorien angelegt. Die Erfüllung des „Traums vom richtigen Eigenheim“ verlegte die Fibel noch in die ferne (Nachkriegs-)Zukunft – und an andere Stelle. Dennoch, ihre Errichter*innen und Nachfahren wurden mit lebenslangem Bleiberecht ausgestattet. Und näherten sich ihrem individuellen Traum in scheinbar unermüdlichen, baulichen Schritten. Wegen ihrer An- und Umbauten verortet Engelke die wenigen, heute noch existierenden Behelfsheime in theoretische Nähe der seit Beginn des 20. Jahrhunderts diskutierten Idee der wachsenden Häuser. Hier wurden sie natürlich „Marke Selbstbau“ ausgeführt und nicht, wie es Martin Wagner 1932 zur Wahrung formaler Vollkommenheit in allen Etappen gefordert hatte, durch „Künstler ersten Ranges“.
Das „Protokoll“ einer surrealen Gesprächssituation, das die Journalist*innen Julia Lauter und Holger Fröhlich dem Buch beisteuern, verdeutlicht diesen Aspekt eindrücklich: Während ein unter Alkoholeinfluss stehender Robert Ley, seinerzeit Reichskommisar für den sozialen Wohnungsbau und Erdenker des Reichseinheitstypes, auf einem Podium mit zeitgenössischen Stadplanerinnen, Behelfsheimkritikern und Tiny-House-Besitzern um Redezeit ringt, erweitern und transformieren die emsigen Laubenpieper, bei denen das Gesprächsformat zu Gast ist, den abrissbedrohten Veranstaltungsort in bauernschlauer Heimwerkermanier immer wieder aufs Neue.
Manchen Architekt*innen kräuseln sich die Zehnägel bei so viel pragmatischer Anarchie, wo fünf verschiedene Teppichreste aufeinandertreffen oder sich Backsteintapete um die Ecke biegt. Doch wer genau hinguckt, kann durchaus überrascht werden. Enver Hirsch und Philipp Meuser haben das gemacht. Ihre Funde liegen nun als präzise gestaltetes, liebevolles Fotobuch vor, das unsere jederzeit Instagram-fähigen Wohnstandards angenehm infrage stellt.
Text: Kathrin Schömer
Behelfsheim
Enver Hirsch & Philipp Meuser, 2020
148 Seiten
www.behelfsheim.com
35 Euro
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