Was hat der Konstantinbogen in Rom mit der Neuen Frankfurter Altstadt gemeinsam? Was Hild und K, eine informelle Siedlung in Soweto und Karl der Große? Sie alle nutzen vorhandene Architekturelemente in einem Neubaukontext, wie Hans-Rudolf Meier in seiner Publikation Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur darlegt.
Meier ist Kunsthistoriker, Mediävist, Professor an der Universität Weimar und einer der profiliertesten Denkmalpfleger im deutschsprachigen Raum. Mit seiner kürzlich erschienenen Publikation legt er das erste Überblickswerk vor, das sich dem vielschichtigen Thema der Spolienverwendung über die Jahrtausende hinweg aus architektur-, kunst, geschichts- sowie medienwissenschaftlicher Sichtweise widmet.
Dass zu allen Zeiten Architektur Vorangegangenes integriert, rekontextualisiert und mit neuer, der jeweiligen Gegenwart gemäßen Bedeutung aufgeladen hat, zeigt der Ritt durch die Epochen eindrücklich. Unproblematisch ist ein solcher Versuch nicht, wie der Autor in der Einleitung selbst zugibt, denn er laufe Gefahr, dass sich ein „diffuses Gefühl“ der Bedeutung von Material erhärte, „ohne der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.“ Inwieweit sich die Gründe für die Wiederverwendung von Bauteilen in den unterschiedlichsten religiösen, sozioökonomischen und ökologischen Kontexten vergleichen lassen, wird – durchaus eine Stärke des Buches – nicht abschließend beurteilt.
Den Beginn des Buches stellt der Konstantinbogen als paradigmatisches Beispiel jahrhundertelanger Spolienforschung dar. Meier beleuchtet die kunsthistorische Interpretation des Bogens von Raffael bis Alois Riegl. Diesen Interpreten zufolge spielten für Konstantin sowohl ästhetische Wertschätzung als auch eine kaiserliche Traditionslinie eine wichtige Rolle, historische Tondi, Reliefs und Säulen aus den Zeiten Trajans, Hadrians und Marc Aurels applizieren zu lassen. Hinzu kam, dass die Handwerker und Künstler des 4. Jahrhunderts nicht die notwendigen Fertigkeiten besaßen und dass der Triumphbogen nach dem Sieg über Maxentius „ein Werk aus Hast und Eile“ war, wie bereits Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert notierte.
Was aber trieb Christoph Mäckler an, der sich schon 2006 für die Spolienverwendung bei der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt einsetzte? Oder das Frankfurter Stadtplanungsamt, dass von 2010 bis 2014 einen Spolienkatalog ins Netz stellte? Von der „Magie der Spolien“ war während der Planungs- und Bauphase in Frankfurt immer wieder die Rede. Die Hoffnung galt, dass die authentischen „sprechenden“ Steine das Viertel beleben könnten.
Spolien sind eben kein nur auf Spätantike und Mittelalter beschränktes Phänomen, sondern auch in der Gegenwart virulent. Meier widmet der architektonischen Funktion von Spolien als Ornament im zeitgenössischen Entwurfsprozess ein eigenes Kapitel. Dass die Spolienverwendung sogar ein subversives Moment beinhalten kann, zeigt das Beispiel der Wohnbebauung in München-Lehel von Hild und K. Ohne die Wiederverwendung historischer Doppelbögen wäre die Idee von Wohnungen mit fünf Meter hohen Räumen nicht durchzusetzen gewesen. Andreas Hild spricht deshalb von „Katalysatoren“. Er sieht Spolien zudem als ein „ikonografisches Urban Mining“, als Rückgriff auf den Bestand als Ressource und zugleich bildprägendes Material. Mit diesen und Dutzenden weiteren bekannten und weniger bekannten Beispielen versammelt Meier so eine in dieser Form einzigartige, lesenswerte Großsammlung des Phänomens Spolie im weitesten Sinne.
Text: Alexander Stumm
Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur
Hans-Rudolf Meier
240 Seiten
Jovis Verlag, Berlin 2020
ISBN 978-3-86859-651-9
38 Euro