Dem Namen nach dürfte Paolo Nestler (1920–2010) auch vielen Münchner*innen unbekannt sein. Prominente Bauten hat der Architekt, der zudem als Designer und Hochschullehrer wirkte, kaum hinterlassen. Mit seinem Schaffen dürften etliche Bewohner*innen der bayerischen Landeshauptstadt dennoch vertraut sein. Immerhin geht ein Dutzend Münchner U-Bahnstationen auf Nestlers Planungen zurück. Dass sein umfangreiches und vielfältiges Werk allerdings weit darüber hinausreicht, macht Gabriella Cianciolo Cosentino in ihrem Buch Paolo Nestler: Ein Hauch Italien in der deutschen Nachkriegsarchitektur deutlich.
Als Sohn deutscher Eltern in der Lombardei geboren, verbrachte Nestler die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in Italien und nahm 1939 ein Studium am Mailänder Polytechnikum auf. Als Inhaber eines deutschen Passes zur Wehrmacht eingezogen, wurde er in Nordafrika verwundet und in einem Münchner Lazarett behandelt. Nach dem Krieg blieb er in der Stadt und schloss sein Studium an der Technischen Hochschule ab. Obwohl Nestler auch für Bonn und Wien, für Montreal und New York plante, sollte er keine andere Stadt so prägen wie München. Wenn die bayerische Kapitale bis heute als nördlichste Stadt Italiens beschrieben wird, dürfte Nestler dazu beigetragen haben. Als „Mischung aus italienischer Eisdiele und deutschem Café“ entstanden beispielsweise ab 1951 in verschiedenen Münchner Stadtteilen Eiscafés nach seinen Entwürfen.
Dabei kontrastierten die vielgestaltig verspielten Interieurs mit den grabsteinschweren Monumentalbauten, wie sie noch wenige Jahre zuvor in der „Hauptstadt der Bewegung“ errichtet worden waren. Zugleich entsprachen Nestlers Projekte einer italienischen Handwerkstradition und zeichneten sich demgemäß durch Einzelfertigungen und originelle Lösungen aus. Wodurch sie wiederum im wohltuenden Gegensatz zu einer Wiederaufbauarchitektur standen, die den Prinzipien von Industrialisierung, Systembauweise und Serienproduktion folgte.
Konnte das Neue Bauen in den ersten Jahren der Bundesrepublik noch als unbelastet gehandelt werden, hatte die Moderne in Italien längst Argwohn auf sich gezogen. Entsprechend früh setzte sich auch Nestler kritisch mit einer technokratischen Modernisierung und den Unzulänglichkeiten der Konsumgesellschaft auseinander. Als Präsident der Münchner Akademie der Künste, an der er Innenarchitektur unterrichtete, betonte Nestler 1967 demgegenüber das schöpferische Potenzial des Individuums. So erklärte er in seiner Rede „Akademie und Gesellschaft“, der Tradition einer ästhetischen Erziehung gemäß: „Der Künstler muß sich vor allem im Umgang mit Menschen bewähren: als Spielkoordinator, Animator, im Aufspüren verschütteter Kreativität“.
Dass dieses Bewusstsein für die Anliegen der Gegenwart auch in den Entwürfen Nestlers zu erkennen war, mag durch den oftmals ephemeren Charakter seiner Bauten begünstigt worden sein. Als gehauchte Architekturen sind die Interieurs der Cafés wie auch die Ausstellungsarchitekturen oder der temporäre Zubau zum Haus der Kunst allerdings längst demontiert oder ersetzt worden. Umso erfreulicher ist es, dass die umfassend bebilderte Veröffentlichung eine Möglichkeit bietet, Nestlers Schaffen anhand von Plänen, Fotos und Beschreibungen nachzuvollziehen.
Für Cianciolo Consentino, deren Namen erstaunlicherweise weder auf dem Cover noch auf dem Rücken des Buches genannt wird, stand die kritische Auseinandersetzung mit Nestlers Schaffen dabei (noch) nicht im Vordergrund. Dass der Veröffentlichung auch eine Zusammenschau von Nestlers Schriften angehängt ist, legt es vielmehr nahe, die Publikation als Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung mit einem spektakulären Oeuvre zu verstehen, das vielfach längst verschwunden ist.
Text: Achim Reese
Paolo Nestler. Ein Hauch Italien in der deutschen Nachkriegsarchitektur
Gabriella Cianciolo Cosentino
252 Seiten
ISBN 978-3-95553-644-2
39,90 Euro
Die Publikation ist auch als eBook erschienen.
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