Dieses Buch ist eine echte Tiefenbohrung! Ausgangspunkt von Moholy’s Edit ist der legendäre vierte CIAM-Kongress „Die Funktionale Stadt“ im Sommer 1933, auf dem sich die europäische Avantgarde traf, um über den Zustand der Städte zu diskutieren. Das wichtigste Resultat dieses Treffens, das auf einer Kreuzfahrt von Marseille nach Athen und zurück stattfand, kennt jeder: die Charta von Athen. Bis heute gilt sie als Bibel der modernistischen Stadtplanung.
Um die Charta geht es in der kompakten und schön bebilderten Publikation mit dem Untertitel The Avant-Garde at Sea, August 1933 aber nur am Rande. Stattdessen blicken die Autoren Chris Blencowe und Judith Levine auf das ungewöhnliche Setting des Kongresses, und zwar anhand einer viertägige Rundreise des inneren Zirkels der CIAM in der Ägäis. Ausgangspunkt ihrer Rekonstruktion dieses elitären Trips im Trip ist ein Film, der minutiös – sprich: mit Hilfe von Time-Codes in der Marginalspalte – mit der Erzählung des Buches verwoben wird. Autor des Films ist kein geringerer als der ungarische Universalkünstler und ehemalige Bauhaus-Meister Lásló Moholy-Nagy – womit endlich der Titel dieses essayistischen Buches erklärt wäre. Moholy-Nagy, dessen Film den ganzen Kongress dokumentierte, hatte der Extratour im kleinen Boot – das nach einem Sturm fast gekentert wäre – eine eigene Sequenz gewidmet.
Da der Film Architects’ Congress online verfügbar ist, kann nun jeder (ab 21’14’’) hautnah miterleben, wie die Architekt*innen eine Bildungsreise durch die hochsommerliche Ägäis machen, wie sie antike Tempel besuchen und voller Faszination die strahlend weißen Dörfer mit ihren Flachdächern auf den kleinen Inseln erkunden. Doch die Autoren verlassen sich nicht allein auf einen Schwarz-Weiß-Film ohne Ton und Zwischentitel. Sie ziehen Le Corbusiers Skizzenbücher, einen langen Brief Moholy-Nagys an seine spätere Frau Sibyl und viele weitere Quellen heran, um die Erlebnisse detektivisch zu rekonstruieren, zum Leben zu erwecken und dabei manche inhaltliche Volte zu schlagen.
Dass es den ungewöhnlichen Film überhaupt gibt, ist übrigens kein Zufall, sondern verdankt sich dem frühen PR-Genie Sigfried Giedion. Der Zürcher Kunsthistoriker, CIAM-Generalsekretär, produktive Publizist und unermüdliche Netzwerker beauftragte seinen Freund Moholy-Nagy mit dem Film und sorgte dafür, dass die CIAM alle anfallenden Kosten übernahm. Am Mythos CIAM 4 wurde also von vornherein und sehr gezielt gestrickt – mit modernster Technik.
Text: Gregor Harbusch
Moholy’s Edit. The Avant-Garde at Sea, August 1933
Chris Blencowe, Judith Levine
198 Seiten
Englisch
Lars Müller, Zürich 2018
ISBN 978-3-03778-566-9
35 Euro
Zum Thema:
Kaum zu glauben aber wahr: Der sommerlichen Kreuzfahrt der CIAM über das Mittelmeer widmete sich sogar das BauNetz vor einigen Jahren schon ausführlich – nämlich in Baunetzwoche#395.