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16.02.2016

Provokation ist mir total egal

Matthias Lilienthal im Interview


Er kitzelt die bayerische Landeshauptstadt. Matthias Lilienthal öffnet die Kammerspiele zur Stadt und den Menschen und macht sich dabei nicht nur Feinde. Ein Gespräch über München und Berlin, Kultur und Geld.

Von Jeanette Kunsmann

Matthias Lilienthal, als Intendant am Berliner Theater Hebbel am Ufer lautete Ihr Motto „Theater machen ohne Geld" – wie ist Ihre Idee von Theater als Intendant der Münchner Kammerspiele?
Matthias Lilienthal: Hier ist es natürlich ein bisschen mehr „Theater mit Geld" – aber wenn alle Mitarbeiter gut bezahlt werden, ist dies leider auch wieder schnell weg. Die Kammerspiele erhalten 19,8 Millionen Euro Subventionen, was drei bis vier Millionen weniger wert ist als in Berlin. Es gibt außerdem mehr Ideen, als ich realisieren kann, insofern: Ich bin immer noch auf der Suche nach Geld.

Sie haben die Kammerspiele vorübergehend  in „Munich Welcome Theatre“ umbenannt.
(Unterbricht) Nein: Das Munich Welcome Theatre ist eine Plattform für die Auseinandersetzung mit Flüchtlingen innerhalb der Kammerspiele.

Die CDU nannte Sie einen Zyniker. Warum brauchen wir Provokation?

Provokation ist mir total egal. Wir hatten hier mal eine Arbeit an den Kammerspielen, die als mittlerer Skandal gewertet wurde. Innerhalb des Open Border-Kongresses wurde eine internationale Schleuser-und-Schlepper-Tagung mit aufgenommen, was einem CSU-Bundestagsabgeordneten aufgefallen ist, der daraus einen Skandal gemacht hat. Die CSU hier in Bayern versuchte zu dem Zeitpunkt, die Flüchtlingsproblematik auf die Schleuser und Schlepper und deren Kriminalität zu reduzieren. Dabei sind sie eine Nebenerscheinung der Flüchtlingswelle, keine Ursache. Insofern hat mir die Auseinandersetzung damit Spaß gemacht, während Herr Uhl täglich bei der Kriminalpolizei angerufen hat: mit der Bitte, mich aus dem Verkehr zu ziehen.

Wie ist das ausgegangen?
Ach, die Kriminalpolizei hat mich dann angerufen und ließ beim Erzählen eine gewisse Heiterkeit verspüren.

Dieser Skandal als Sprungbrett: Ist München bereit für Mathias Lilienthal?
Es gibt „ein München“ ja so wenig, wie es ein Berlin gibt. Publikumsmäßig geht es den Kammerspielen gut: Die Leute sind im Moment eminent neugierig. Auf der anderen Seite gibt es natürlich einen Teil von Abonnenten und bürgerlicher Öffentlichkeit, die immer wieder einklagen, sie wollten normale narrative Stücke – denen gehe ich mit Politik und Performance auf die Nerven.

Fühlen Sie sich denn schon zuhause?
Ja: Ich lebe und wohne jetzt hier. Und mir macht es natürlich Spaß, viele Traditionen aus den Münchner Kammerspielen und bestimmte Traditionen aus der Arbeit am HAU hier zusammenzuführen und neu vorzustellen. Ich hätte ja auch in Berlin bleiben können.

Mit den Shabbyshabby Apartments haben Sie im vergangenen Herbst zusammen mit raumlaborberlin auf die hohen Mieten und die Münchner Wohnungsnot aufmerksam gemacht. Ihr Résumé?
Shabbyshabby war ja auf der einen Seite ein fast journalistisches Besetzen eines Themas. Wenn jeder Quadratmeter Wohnraum in dieser Stadt 20 oder aktuell sogar 22 Euro kostet, beschädigt dies das Leben der Menschen. Studenten haben hier Zehn-Quadratmeter-Zimmer für 700 Euro, was dann wiederum in Gang setzt, dass Studenten in Oktoberfestzeiten ihre Buden zu Wucherpreisen vermieten, um sich so ihre Mieten quer zu finanzieren. Das Mietensystem dieser Stadt erzieht alle zu Airbnb-Kapitalisten.

Das ist in Berlin aber mittlerweile auch so.

Ich weiß. Die Idee von Shabbyshabby war: Wir bauen Sozialwohnungen mit einem Stückpreis von 500 Euro. Das Projekt hat auf drei sehr unterschiedlichen Ebenen funktioniert: Theatergänger haben in den Apartments übernachtet und das als eine Art von Performance wahrgenommen. Wenn Annette Paulmann an der Maximilianstraße geschlafen hat, im Pyjama aufs Dixie-Klo gegangen ist und dabei ihr Spiegelbild in den Schaufenstern von Hermès gesehen hat: In so einem Moment entsteht ja etwas. Auf der zweiten Ebene haben wir Führungen gemacht, um die Sozialwohnungen vorzustellen – zu diesen Terminen kamen 100 bis 200 Leute. Und auf der dritten Ebene wurden die Nachbarn mit irgendwelchen Textilbergen oder kleinen Häuschen konfrontiert, so dass Shabbyshabby eine merkwürdige Desorientierung des Alltags wurde. Für das Theater sind ja immer nur kleine Teile der Bevölkerung ansprechbar, in dem Moment, wo die Leute auf der Straße darüber stolpern, beginnt eine völlig andere Kommunikation.

Wird sich das Wohnen verändern?
Was ja selten reflektiert wird, ist die Veränderung der Wohnbedürfnisse durch das Internet. Bei den Gästewohnungen an den Münchner Kammerspielen, aber auch vom HAU in Berlin, spielt inzwischen die Geschwindigkeit des Internets eine größere Rolle als die Frage, wie viel Quadratmeter das Zimmer hat. Die jüngeren Theaterleute sind extrem internetaffin.

Sie meinen, der Raum verliert seine Bedeutung?
In meiner Wohnung im Glockenbachviertel habe ich ja – im Gegensatz zu meiner linken Gesinnung – auch eine abgefeimte Hipsterexistenz: Ich gehe stets in Kantinen und Restaurants essen, und bewohne eine 50er-Jahre-Wohnung so, als sei sie ein Luxushotel. Also eigentlich stimmen die Architektur und die Gestaltung dieser Wohnung überhaupt nicht mehr mit meinen Bedürfnissen überein. Und ich nehme auch im Glockenbach wahr, dass ich nicht der einzige bin, der so ist.

Wie wichtig ist denn Kultur für die Stadt und die Weiterentwicklung einer Stadt?
Extrem wichtig. Ich finde, dass Kultur letztendlich ein sozialer Kitt einer Gesellschaft ist. Die Gesellschaften in Nordamerika und Mitteleuropa sind gerade dabei, vollständig zu entgleisen. In diesem Moment ist Kultur etwas, dass dieser Gesellschaft einen Kern der Auseinandersetzung und der Reibung verleiht.
Und in Deutschland kann man eine Spezialisierung der Städte beobachten: Berlin als Jugendherbergs- und Hipster-Eldorado. Diese Jugendorientierung der Hauptstadt entzieht natürlich die Jugend anderen deutschen und internationalen Städten. Das ist wiederum ein Phänomen, das man in München spürt: die junge Kunstszene ist hier vergleichsweise klein. Auch durch die Billigflieger und Schnellbahnen etc.: Wir leben heute längst nicht mehr in Deutschland, wir leben in Europa. In dem Moment, wo Athen porös und aufregend wird, und man dort mit einem Drittel des Geldes durchkommt, das man in Berlin bräuchte, zuckelt natürlich eine bestimmte Karawane von Berlin nach Athen weiter. Die Globalisierung ist Teil unseres Alltags geworden und mit einer bestimmten Selbstverständlichkeit auf dem Lebensplan von Menschen angekommen. Das wäre zu der Zeit, in der ich 30 war, undenkbar gewesen.

Ebenso beeinflusst auch die Entwicklung einer Stadt ihre Kulturorte. In Berlin gab es zum Beispiel große Diskussionen, dass die Volksbühne ab 2017 von Chris Dercon geleitet werden soll  – also von keinem Theaterintendanten, sondern einem Museumsdirektor. Damit findet eine Ära ihr Ende – das weckt Ängste, obwohl solche Prozesse und Veränderungen auch normal und richtig sind.

Ich liebe die Arbeit der Volksbühne von Frank Castorf, finde es aber auch in Ordnung, dass etwas Neues in Berlin passiert. Die Idee, das Kino Babylon, die Volksbühne und den Hangar in Tempelhof zusammenzulegen und die Volksbühne als ein Multispartenhaus und in vielen Genres zu denken, finde ich interessant.

Alles soll sich ändern, aber so bleiben, wie es ist.
Genau – und das ist auch eine neue Spießigkeit, die sich in Berlin gerade entwickelt, und zwischen Hornbrillen tragenden Hipstern und der Verehrung des Ostbezuges auf einmal zu einer statischen Situation wird.

Was passiert mit Frank Castorf?
Ach, alle Theater lecken sich die Finger danach, dass Frank Castorf bei ihnen inszeniert – er kann seine künstlerische Arbeit sowieso weiterhin verfolgen. Ich würde mich freuen, wenn er das Burgtheater bekommt.

Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Bühnenbild aus?
Eine Bühne kann ganz verschiedene Dinge sein. Bei Frank Castorf war es zum Beispiel immer ein architektonischer Raum, der Spielmöglichkeiten für Schauspieler sehr genau konditioniert und im gleichen Moment eine extreme Reflexion von Gesellschaft abliefert. Die Bühnenbilder von Bert Neumann haben über alte DDR-Materialien die Unwirklichkeit von Hellersdorf und Marzahn und über die extreme Etablierung von Leuchtstoffröhren und anderen Materialien diese Form von Reflexion geboten. Bei Anna Viebrock ist es eher die Rekonstruktion von untergegangenen, anachronistischen Räumen. Dem badischen Buffet aus dem Badischen Bahnhof in Basel zum Beispiel – in der Murks-Produktion war es die Rekonstruktion der Volksbühnen-Umgebung.

Und bei Ihnen an den Kammerspielen?
Wir hatten gerade eine Premiere mit dem französischen Bühnenbilder Philippe Quesne. Für ihn ist das Bühnenbild zentrales Moment einer Inszenierung. Mit „Casper Western Friedrich“ wuchtet er eine große poetische Vision einer romantischen Cowboy-Bande auf die Bühne und tritt damit in einer bestimmten Art und Weise die Nachfolge von Robert Wilson an.

Welche Macht hat denn das Theater heute?
Gar keine! In einer bestimmten Nische kann man sicher bestimmte Diskussionen führen. Ich kann Shabbyshabby machen und es beeinflusst die Politik der Stadt München nicht. Und auch wenn sich das Theater in Dresden heldenhaft gegen die Pegida-Bewegung wehrt, würde ich mich nicht zu der Aussage hinreißen lassen, dass das Theater in dieser Richtung wirklich etwas verändert. Ich finde es aber super, dass Theater sich neuen Strukturen öffnen. Theater wird immer da spannend, wo es sich von außen mit anderen Dingen auflädt.

Ihr Gruß an Christoph Schlingensief?

Dass ich ihn vermisse.


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Der Dramaturg Matthias Lilienthal ist seit der Spielzeit 2015/2016 neuer Intendant der Münchner Kammerspiele, zuvor war er elf Jahre künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Theaters Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin. Matthias Lilienthal spricht diesen Freitag neben Ole Scheeren, Peter Haimerl und David Van Severen auf dem Symposium Architecture Matters in der Reaktorhalle in München – Baunetz ist Medienpartner. Der Eintritt kostet 18 Euro, ermäßigt 11 Euro, Tickets und Anmeldung unter: amiando.com

www.architecturematters.eu


Zum Thema:

www.muenchner-kammerspiele.de


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Matthias Lilienthal, Foto: © Sima Dehgani

Matthias Lilienthal, Foto: © Sima Dehgani

RHOMBI HOUSE vom Berliner Kollektiv OnOff (Sam Carvalho, Marius Busch, Suzanne Labourie, Berk Asal, Anika Neubauer, Nick Green), Shabbyshabby Apartment, Müncher Kammerspiele 2015, Foto: © Matthias Kestel

RHOMBI HOUSE vom Berliner Kollektiv OnOff (Sam Carvalho, Marius Busch, Suzanne Labourie, Berk Asal, Anika Neubauer, Nick Green), Shabbyshabby Apartment, Müncher Kammerspiele 2015, Foto: © Matthias Kestel

Casper Western Friedrich von Philippe Quesne, Müncher Kammerspiele 2016, Foto: © Martin Argyroglo

Casper Western Friedrich von Philippe Quesne, Müncher Kammerspiele 2016, Foto: © Martin Argyroglo

Casper Western Friedrich von Philippe Quesne, Müncher Kammerspiele 2016, Foto: © Martin Argyroglo

Casper Western Friedrich von Philippe Quesne, Müncher Kammerspiele 2016, Foto: © Martin Argyroglo

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