Die gute Nachricht vorneweg: In diesem Buch kommen keine Stühle vor. Kein einziger Freischwinger geistert vorbei. Ein Skandal? Ein Glück. Denn unter den vielen Publikationen, die in den letzten Jahren ein Zeichen der neuen Wertschätzung für Marcel Breuer und sein Werk waren, ragt das kluge „Marcel Breuer. Building Global Institutions“ schon mit seinem gut begründeten Ansatz heraus.
Die Verleger konzentrieren sich auf die Zeit nach 1953, was sie als einschneidendes Jahr benennen: Breuers Arbeit am neuen Hauptquartier der UNESCO in Paris (mit Bernard Zehrfuss und Pier Luigi Nervi) nimmt gerade richtig Fahrt auf, und parallel dazu erhält Breuer den Auftrag für die umfangreiche Erweiterung der St.-Johns-University in Minnesota. Die neue Klosterkirche dort, St, John’s Abbey, wird mit ihrem spektakulären, wie ein Segel geblähten Betonglockenturm zu einem seiner bekanntesten Werke.
Mit diesen zwei Aufträgen, beide übrigens in Zusammenarbeit mit Nervi, wird ein radikaler, tiefgreifender Bruch in Breuers Architektur und in seiner Arbeitsweise manifest, so argumentieren die Herausgeber in ihrer Einleitung: weg von den privaten Wohnhäusern, weg von der Leichtigkeit des Freischwingers und des International Style, weg vom Bauhaus. Hin zum neuen Breuer, dem Meister der gekrümmten Betonfläche, der fortan viele Großaufträge vor allem für US-amerikanische Institutionen umsetzt, die im Rahmen der Pax Americana und mit den immer bequemeren Flugreisen zunehmend im globalen Maßstab agieren. Mit seinen Auftraggebern wächst Breuers Büro, das dabei auch die Demonstrations-Architektur eines prosperierenden Amerikas in die ganze Welt trägt. Auch heute eine schöne Vorstellung: Der Immigrant wird zur Werbefigur der USA.
Breuers Weg zwischen 1953 und 1981 wird hier in neun wortgewaltigen Essays erzählt, die sich jeweils unterschiedlichen Facetten dieser Karriere widmen. Unter lauter schönen Texten sind Guy Nordensons „Light and Shadow“ und Timothy Rohans „Symbols, Signs, and Structures at the Intersection of Modernism and Postmodernism“ von besonderer Schönheit. Nordenson beschreibt mit großer Detailtiefe die Zusammenarbeit (und den Streit) von Breuer mit verschiedenen Ingenieuren, und wie insbesondere die Arbeit mit Nervi Breuers Architektur grundlegend veränderte. Rohan widmet sich der Bedeutung von Symbolen und Zeichen, der „formalistischen Poesie“ in Breuers Werk – und wie diese durchaus verspielten Formen weder in die strenge Moderne passten, aus der Breuer stammte, noch in die Postmoderne, in die Breuer nicht hinein wachsen wollte. Breuer war ein eigenständiger Geist, der auch mit Stilbegriffen wie Brutalismus oder „New Monumentality“ nichts anfangen konnte.
Zwischen den Texten liegen blitzschöne „Visual Essays“, die auf bis zu 30 Seiten Fotos und Pläne zeigen, ganz selten als Doppelseite, meist klein und wie als Moodboard an die Wand gepinnt. Erst zu einzelnen Projekten, Saint John’s Abbey und UNESCO, dann zu größeren Themen wie Precast Panels, New York oder France – und zum Schluss zum „Global Breuer“, der Projekte in Frankreich, England, Belgien, Afghanistan, Argentinien, Australien oder auch in Limburg an der Lahn betreute. Da findet sich viel Bekanntes, aber auch Seltenes und gänzlich Unbekanntes. Schöne Zeichnungen, großartige Fotos; meistenteils in Schwarzweiß, man erschrickt fast, wenn man plötzlich auf eine der wenigen farbigen Abbildungen stößt.
Dass eine übersichtliche Biografie fehlt, dass es keine Projektübersicht mit Daten und Fakten gibt und dass einige Pläne und Zeichnungen viel zu klein gezeigt werden trübt die Freude an diesem Buch kaum. Dazu muss man sich dann eben ergänzend noch eine der braveren Monographien kaufen, die es zu Breuer inzwischen genügend gibt. Und Breuer gehört ja sowieso zu den ganz wenigen Architekten, über die man gar nicht genügend Bücher besitzen kann.
Text: Florian Heilmeyer
Marcel Breuer. Building Global Institutions
Barry Bergdoll / Jonathan Massey (Hg.)
368 Seiten
Englisch
Lars Müller, 2018
ISBN 978-3-03778-519-5
35 Euro
Zum Thema:
Lust auf noch mehr Breuer? Wer Freude an Originalzeichnungen und historischen Dokumenten hat, dem sei ein Blick in das Marcel Breuer Digitale Archive an’s Herz gelegt, das die Syracuse University seit einigen Jahren aufbaut und in dem Originalbestände aus zehn Sammlungen weltweit zusammengeführt sind.