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27.09.2023

Buchtipp: Sowjetische Avantgarde

Lessons from the Social Condensers


Der in den 1920er Jahren in der Sowjetunion geprägte Begriff des „sozialen Kondensators“, der sich auf Kommunehaus und Arbeiterklub bezog, transportierte die Überzeugung, dass Architektur nicht nur individuelles Verhalten formen, sondern die Gesellschaft als Ganzes reformieren kann. Vom Einfluss, den die sowjetische Avantgarde der unmittelbar nachrevolutionären Jahre auf die Architektur späterer Dekaden ausübte, zeugt in aller Deutlichkeit das Schaffen von Rem Koolhaas. Und das selbst dort, wo der Architekt über die Kapitale des Kapitalismus schreibt – wenn Koolhaas den Downtown Athletic Club in Delirious New York zum sozialen Kondensator erklärt, geschieht das allerdings nicht ohne Ironie. 

Keineswegs hatten die architektonischen Verdichter der jungen Sowjetunion nackte Zufallsbegegnungen zwischen Boxtraining und Austerngenuss zum Ziel, wie sie Koolhaas imaginiert. Indem sie bewusst auf das menschliche Verhalten einwirken sollten, waren sie weniger zur hedonistischen Entfaltung denn zur Ausbildung eines kollektivistischen homo sovieticus bestimmt. Dass Faszination und Schrecken angesichts dieser Bauten folglich dicht beieinanderliegen, betont Anna Bokov zu Beginn ihres Buchs Lessons from the Social Condensers. In der Publikation, die der Bauaufgabe des Kommunehauses nur am Rande Erwähnung tut, widmet sich die Autorin vorrangig der Architektur von Arbeiterklubs und Kulturpalästen.

Drei Jahre nach der Veröffentlichung ihrer vielbeachteten Publikation über die Moskauer Gestaltungshochschule Wchutemas gelingt Bokov dabei abermals der Beweis, dass Architekturgeschichte aufregend sein kann. In den drei einleitenden Kapiteln zu Ideologie, Architektur und Typologie spannt sie den ganz großen Bogen: Von den Verlautbarungen des Vordenkers Alexander Bogdanow führt sie die Leser*innen bis zum Mobiliar und vermag auch im geringsten Maßstab noch durch ein Kuriosum wie die Schachstation Alexander Rodtchenkos zu begeistern.

Wie fantastisch die versammelten Abbildungen sind, lässt sich trotz ihrer Briefmarkengröße erkennen. Dass die zahlreichen Bilder den Aufsatz nur sehr kleinformatig begleiten, dürfte indessen den Kosten geschuldet sein, wird die beeindruckende Publikation doch für passable 35 Euro angeboten. Wenig überraschend ist es dabei ein Rotton, der das Schwarz-Weiß ergänzt — und das auch im anschließenden Katalogteil.

In fünf Kategorien gegliedert, stellt Bokov in diesem Abschnitt die im Titel versprochenen 101 Projekte anhand von Zeichnungen und Fotos vor. Nebst dem vielveröffentlichten Entwurf einer Lenin-Tribüne von El Lissitzky und Ilja Tschaschnik oder dem weithin bekannten Kulturhaus Rusakow nach Plänen von Konstantin Melnikow sind auch etliche Überraschungen darunter. Zu den Projekten, die den Wunsch wecken, ihnen allein würde baldmöglichst noch ein ganzes Buch gewidmet, gehört etwa ein Tempelentwurf Nikolai Ladowskis.

Während etliche der gezeigten Entwürfe Projekt geblieben sind, fällt eines der gezeigten Beispiele besonders ins Auge: Zu Beginn der Dreißigerjahre nach Plänen von Alexander Dimitriew fertiggestellt, wurde der Eisenbahner-Kulturpalast im ukrainischen Charkiw im August 2022 durch die russischen Streitkräfte zerstört. Unverkennbar wirkt die Geschichte, die Bokov in ihrem mehr als lesenswerten Buch rekapituliert, bis in die Gegenwart.

Text: Achim Reese


Lessons from the Social Condensers. 101 Workers’ Clubs and Spaces for Mass Assembly
Anna Bokov

Gestaltung: Teo Schifferli mit Martin Lostis
204 Seiten
gta Verlag, Zürich 2023
ISBN 978-3856764463
35 Euro


Zum Thema:

Mehr zu Erforschung sowjetischer Architektur bei Baunetz Campus.


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