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14.04.2021

Buchtipp: Bildungsschock

Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren


Die Erschließung architektonischer Ressourcen für gesellschaftliche und ökonomische Zwecke ist heute – wenn man von Ausnahmeexperimenten wie dem Springer-Campus oder Vorbildern aus der kalifornischen Techkultur absieht – etwas aus der Mode gekommen. Insbesondere beim Schulbau geht es momentan zumindest in Deutschland primär um die pragmatische Deckung räumlicher Grundbedürfnisse. Mit neuen Konzepten wird eher selten experimentiert – sieht man von einzelnen Projekten wie der Bildungslandschaft in Köln ab.

Wie grundlegend anders dies vor 50 Jahren auch hierzulande war, zeigt die Ausstellung „Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Unabhängig von der Möglichkeit eines Besuchs vor Ort empfiehlt sich die zugehörige Publikation gleichen Namens, die eine kritische Dokumentation jener Umbruchjahre verspricht.

Die Metapher des Bildungsschocks geht zurück auf den Sputnikschock Ende der 1950er, als sich die westliche Welt angesichts des sowjetischen Satelliten plötzlich im wissenschaftlichen wie technologischen Hintertreffen sah. Da zur gleichen Zeit durch die ersten geburtenstarken Jahrgänge eine massive Expansion des Bildungswesens notwendig wurde, eröffnete sich ein günstiges Experimentierfeld. Und das nicht nur für neue Lernkonzepte, sondern damit einhergehend auch für innovative oder geradezu radikale architektonische Ansätze.

Die bauliche Hinterlassenschaften dieser Zeit stellen sich vielen Menschen heute als betonlastige Großformen nach Art einer bundesdeutschen Gesamtschule dar – maschinenartig und anonym, konzipiert als flexible Lernlandschaften, aber im Umkehrschluss leider ohne Fenster und natürliches Licht. Insofern ist besonders der zentrale Essay zum Thema von Herausgeber Tom Holert erleuchtend, weil hier nicht nur die komplexe ideengeschichtliche Genese der Bildungsarchitektur jener Jahre deutlich wird, sondern auch, wie vielfältig die architektonischen Resultate jener zwei Jahrzehnte in Wirklichkeit waren.

Die Publikation verfolgt die damaligen Reformbemühungen über Landes- und Systemgrenzen hinweg. Neben der Laborschule Bielefeld oder den Berliner Mittelstufenzentren geht der Blick auch in die DDR, nach Brasilien oder Ahmedabad. Das Leitthema „Offenheit“ wird dabei sowohl im schulischen als auch im universitären Kontext untersucht. Am Beispiel Italiens wird auch der Gegensatz von dichten Campuskonzepten und territorialen Ordnungsansätzen aufgearbeitet. Ergänzt werden die umfangreich bebilderten Essays von historischen Quellentexten und zeitgenössischen künstlerischen Interventionen.

Zwei Aspekte machen die Publikation über alle Beiträge hinweg lesenswert. Da ist erstens die große Relevanz, die viele der damals geprägten Begrifflichkeiten und Ideen – „lebenslanges Lernen“ beispielsweise – noch heute haben. Und zweitens die Erkenntnis, wie fortschrittlich und institutionenübergreifend damals zum Verhältnis von Bildung und Raum geforscht wurde – und wie groß die Bereitschaft war, neue Erkenntnisse auch tatsächlich zur Grundlage konkreter Experimente zu machen. Schöne bauzeitliche Fotografien für Fans des gepflegten brutalistischen Schulbaus gibt es noch dazu.

Text: Stephan Becker

Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren

Tom Holert und Haus der Kulturen der Welt (Hg.)
303 Seiten
De Gruyter, Berlin 2020
ISBN 978-3-11070-126-5
28 Euro


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