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08.02.2022

Buchtipp: Briefe an Mama

Le Corbusier. Architekt, Künstler, Theoretiker


Kaum ein anderer Architekt des 20. Jahrhunderts fasziniert uns noch heute so sehr wie Le Corbusier, über kaum einen anderen gibt es ähnlich viele Publikationen. Mehr als 500 Bücher beleuchten bereits alle erdenklichen Aspekte seines umfangreichen Werks oder diskutieren seine Theorien. So ist es nur schwer zu glauben, dass darunter bis 2008 keine lebensumspannende Biografie existierte und dass es dann noch einmal 13 Jahre gedauert hat, bis diese nun endlich auch auf Deutsch vorliegt. Schließlich ist es ausgesprochen aufschlussreich, auch den Menschen hinter dem Werk zu betrachten, ein Aspekt, der in der Baugeschichtsschreibung, meist so gut wie unbeachtet bleibt. Doch allzu euphorische Bewunderer des genialen Architekten seien vorweg gewarnt. Dessen charakterliche Seiten kommen in dem über 800 Seiten starken Band Le Corbusier. Architekt, Künstler, Theoretiker des amerikanische Kunsthistoriker Nicholas Fox Weber nicht übermäßig gut weg.  

Seine Informationen dazu bezieht Fox Weber weitgehend aus Briefen, wobei ihm zugute kommt, dass Le Corbusier seinen Nächsten gegenüber zeitlebens ausgesprochen mitteilungsbedürftig war. Bereits seinen frühen Mentoren Charles L’Eplattenier und William Ritter schreibt er immer wieder ausführlich über alle möglichen Befindlichkeiten, letzterem sogar über seine intimsten Fantasien und sexuellen Wünsche. Allen voran aber ist es seine Mutter, der er bis zu ihrem Tod mit 99 Jahren regelmäßigen in manchmal mehr als 20 Seiten langen Briefen jede auch noch so banale Kleinigkeit sowie seine stets schwankenden Gemütslagen mitteilt.

Das Verhältnis Le Corbusiers zu seiner „chère petite maman“, von der er sich nie wirklich abzunabeln vermag, ist dabei durchaus zwiespältig. In zahlreichen Schreiben umgarnt er sie zunächst mit hohlen Komplimenten, nur um dann urplötzlich zu Vorhaltungen und Maßregelungen zu wechseln. Nicht zuletzt wirft er ihr ein Leben lang vor, seinen älteren Bruder Albert Jeanneret in ihrer Gunst zu bevorzugen. Das ist ihm Grund genug, der Mutter gegenüber stets besonders mit seinen Erfolgen zu prahlen. Es ist amüsant zu lesen, wie er sie über Jahre hinweg ermahnt, mit dem für sie am Genfer See entworfenen Haus endlich glücklich zu werden, statt immer nur über das undichte Dach zu klagen. Doch er unternimmt nichts, um die Mängel abzustellen. Der eigenen Mutter ergeht es dabei ähnlich wie manch anderem seiner Bauherren. Der Architekt – selbst ein von Pünktlichkeit und Ordnung besessener Pedant – erwartet wie selbstverständlich von den Nutzer*innen seiner Häuser, dass sie über deren technischen Probleme und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten großzügig hinwegsehen.

Die Biografie oszilliert ständig zwischen der kolossalen Bewunderung, die der Autor Le Corbusiers gestalterischem Genie entgegenbringt und der gelegentlich mit unterschwelliger Ironie vorgebrachten Schilderung seines ausgesprochen schwierigen Charakters. Dieser zeichnet sich durch Aggressivität und Egoismus ebenso aus wie durch Selbstgefälligkeit, Rechthaberei und krankhaften Ehrgeiz, offenbart aber mitunter auch nette und herzliche Seiten. Fox Weber portraitiert den Architekten als einen Despoten im Büro, der von den Menschen seiner Umgebung unbedingte Gefolgschaft verlangt – von seinen Mitarbeiter*innen ebenso wie von seiner unglückseligen Ehefrau Yvonne Gallis, die er in Briefen eher wie ein kleines Kind statt wie eine gleichwertige Partnerin anspricht und die letztendlich vollkommen zurückgezogen einige Jahre vor ihm an ihrer Alkoholsucht stirbt.

Breiten Raum in der Publikation nehmen auch Le Corbusiers verschiedene Affären sowie sein Verhältnis zu den Mächtigen ein. Tunlichst vermeidet es der Architekt zeitlebens, sich auf eine politische Meinung festlegen zu lassen, schließlich, so vertraut er seiner Mutter einmal an, interessierten sich Vertreter jeglicher Couleur für seine Architektur. Um seine Ideen verwirklichen und bauen zu können scheint ihm jedes Mittel recht und so verwundert es nicht, dass er sich den unterschiedlichsten Regimen anbiedert – von den Sowjets bis zu den italienischen Faschisten. Besonders zweifelhaft ist seine Rolle während der deutschen Besatzung Frankreichs, wo er dem mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regime dient und dabei auch den ein oder anderen bewundernden Satz über Adolf Hitler fallen lässt, den er kurz zuvor noch verachtet hatte. Nach dem Krieg aber versteht es der Architekt dann meisterhaft, sein Engagement während dieser Zeit unter den Teppich zu kehren, um sogleich mit der neuen Regierung unter Charles de Gaulle anzubandeln.

Mit derartigen Schilderungen gelingt es dem Autor immer wieder, seine Leser*innen zu fesseln. Das über weite Strecken spannende und sehr aufschlussreiche Buch offenbart gelegentliche textliche Schwächen, wenn Fox Weber die aus den Briefen hergeleiteten Fakten verlässt, um manchmal langatmig Le Corbusiers grandiose Raumkreationen zu interpretieren oder technische Zusammenhänge zu erläutern. Im Großen und Ganzen jedoch lässt sich über derartige Unzulänglichkeiten ebenso hinwegsehen, wie über das manchmal etwas vernachlässigte Korrektorat. Schließlich muss es als wirklicher Verdienst des Verlags angesehen werden, die Biografie auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Auch diesem präsentiert sich damit eine herausragende Architektenpersönlichkeit in einem völlig neuen Licht.

Text: Christian Schittich

Le Corbusier. Architekt, Künstler, Theoretiker

Nicholas Fox Weber

816 Seiten
DOM publishers, Berlin 2021
ISBN 978-3-86922-476-3
48 Euro


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