Nichts ist so dauerhaft wie eine temporäre Lösung. Blickt man nach München auf das soeben fertiggestellte Interimsquartier für den sanierungsbereiten Gasteig, wünscht man sich fast eine Neudefinition von temporär. Gerade was den Konzertsaal betrifft, der eine hohe planerische, technische und akustische Präzision verlangt hat und nun für voraussichtlich fünf Jahre seinen Dienst tun soll. Nur fünf Jahre?
Von Sabina Strambu
Der Konzerthausreigen in München hat ein weiteres Etappenziel erreicht: Während die Pläne eines Neubaus für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Werksviertel noch vor sich hinschlummern und sich die liebgewonnene Trutzburg Gasteig auf ihren Fellwechsel vorbereitet, nachdem sie das Schicksal einer technischen Generalsanierung mit Nachjustierung des Fassadenentwurfs ereilt hat, steht nun das Interimsquartier des großen Konzert- und Kulturzentrums im Stadtteil Sendling bereit. Am 8. Oktober weihen die Münchner Philharmoniker den neuen – zunächst nur provisorischen – Konzertsaal namens Isarphilharmonie ein. Das gesamte Ausweichquartier Gasteig HP8, benannt nach der Anschrift Hans-Preißinger-Straße 8 in unmittelbarer Isarnähe, planten von Gerkan, Marg und Partner gmp (Hamburg/Berlin) auf einem ehemaligen Areal der Stadtwerke.
Die Besonderheit und vielleicht auch die Chance in diesem Projekt lagen in der besagten Anforderung, lediglich einen temporären Konzertsaal zu errichten. Angegliedert an den denkmalgeschützten, eigens sanierten Bestandsbau einer ehemaligen Trafohalle, die unter anderem die Eingangssituation zum Konzertsaal markiert, entstand eine reversible Hallenkonstruktion mit eingefügtem Holzmodulbau. Der Neubau nimmt den auch innen holzverkleideten Konzertsaal wie eine „Violine im Geigenkasten“ auf, so der Wortlaut von gmp, und stellt sich als entkoppelbare Raum-in Raum-Konstruktion dar. Die Tragwerksplanung übernahm das Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner sbp (Stuttgart). In die Eckelemente der äußeren Stahlkonstruktion wurden hierfür einschalige Wandelemente aus Brettsperrholz eingehängt, die bereits im Endstadium der Vorfertigung alle akustischen und brandschutztechnischen Anforderungen erfüllten. Die Vorteile der Präfabrikation und Systembauweise werden hier deutlich: Detaillierte Vorplanung und eine parallele Ausführung verschiedener Gewerke sorgten dafür, dass der Konzertsaal in nur 1,5 Jahren reiner Bauzeit und unter Einhaltung des Budgetrahmens von rund 40 Millionen Euro pünktlich fertiggestellt werden konnte.
An Akustik- und Raumqualität büßt die Isarphilharmonie – so der erste Eindruck – keineswegs ein. Seit Beginn des Planungsprozesses arbeiteten gmp mit dem berühmten Akustiker Yasuhisa Toyota und seinem Team von Nagata Acoustics zusammen. Die Gestaltung ging mit der Forderung nach akustischer Perfektion einher. Raumgeometrie, der Steilgrad der Sitzränge, die Wandverkleidung aus dunkel lasiertem Fichtenholz in unterschiedlich weit geschichteten Latten, der helle Parkettboden oder die von gmp entworfene Bestuhlung – all dies steht im Dienst eines präzisen Zusammenspiels der schallreflektierenden Oberflächen. Einen großen Anteil an der Akustik habe laut Toyota die Psychoakustik, erklärt Architekt Christian Hellmund, der gemeinsam mit Stephan Schütz und Meinhard von Gerkan für den Entwurf verantwortlich ist. So soll der dunkle Innenraum Geborgenheit vermitteln, die Konzentration auf die helle Bühne gerichtet sein und das Publikum, für das bei Vollbestuhlung mehr als 1.900 Plätze zur Verfügung stehen, den lebendigen Farbrahmen bilden. Die weichen Sitze und die raue Oberfläche der Innenwände laden dabei förmlich zur Berührung ein, sodass die Wahrnehmung des Geschehens über das Hören hinausgeht. Für gute Akustik wurde wirklich alles getan; nicht zuletzt daran werden sich der Erfolg und die vielleicht auch langfristige Akzeptanz dieses Gebäudes messen.
Zwischen dem dunklen Kokon und der denkmalgeschützten Halle E, die mit Beton und rotem Ziegel den industriellen Charakter seiner Entstehungszeit um 1929 behalten hat, entstand eine gläserne Erschließungsfuge für den Konzertsaal. Der sanierte Bestandsbau wiederum nimmt neben dem Foyer künftig weitere Nutzungsbereiche des Kulturzentrums Gasteig auf. Rund um das gebäudehohe, glasüberdachte Atrium ziehen ein Standort der Münchner Stadtbibliothek, ein Veranstaltungssaal, Seminar- und Besprechungsräume, Räume der Kulturvermittlung sowie Gastronomie ein. Darüber hinaus finden sich auf dem Areal drei weitere neue Modulbauten, die die Münchner Volkshochschule, die Hochschule für Musik und Theater München, ein Restaurant und Veranstaltungssäle beherbergen werden. Die städtebauliche Positionierung auf dem Quartiersgelände geht ebenfalls auf gmp zurück und stellt bewusst den Altbau der Trafohalle in den Mittelpunkt, dessen öffentliche Nutzung über den Gasteig hinaus avisiert ist.
Noch ist die Skepsis gegenüber dem Gasteig-Interimsquartier mancherorts groß. Anwohner*innen und Politik stören sich an der bewusst zurückhaltenden, grauen Systemfassade des modularen Neubaus. Nutzer*innen des zentrumsnahen Gasteig-Originalbaus scheuen die weite Anfahrt, und Musikkritiker*innen warten ohnehin gespannt auf die erste Hörprobe in der Isarphilharmonie. Letztendlich könnte man diese Lösung aber auch als Chance betrachten, teure städtische Großprojekte zu überdenken, endlich eine dezentrale Kulturbautenlandschaft in München zuzulassen, gut genug zu erschließen, sowie den Ort seinen eigenen Charme entwickeln zu lassen. Die nächsten fünf Jahre werden es zeigen.
Fotos: HG Esch, Mónica Garduño, Judith Buss, Tobias Hase, Manfred Jahreiss, Andrea Plücke, Benedikt Feiten
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superscalar | 08.10.2021 08:03 UhrKonzeptstudie Allmann Sattler Wappner
Die dem Projekt zugrunde liegende konzeptionelle Idee den Konzertsaal als temporären Zwillings-Bau neben die denkmalgeschützte Trafo-Halle zu stellen und die Halle als Foyer und Forum zu aktivieren geht originär auf eine Machbarkeitsstudie von Allmann Sattler Wappner aus dem Jahr 2017 zurück. Die Süddeutsche Zeitung berichtete u.a. am 14. September 2017 über die Vorstellung des Konzeptes vor dem Aufsichtsrat des Gasteig.
gmp erhielt dann im Jahr 2018 im Rahmen eines VgV den Zuschlag für die weitere Planung und Umsetzung des Konzeptes.