Weltweit befinden sich zahlreiche Städte in rapiden Wachstumsprozessen. Sie werden nicht nur immer größer, voller und lauter, sondern bedingt durch den Klimawandel auch zusehends wärmer. Damit gewinnen urbane Grün- und Freiflächen eklatant an Bedeutung: Als veritable Oasen inmitten aufgeheizter, stressiger Betonwüsten verbessern sie nicht nur die Lebensqualität der Menschen, sondern auch das Mikroklima. Dass und wie sich solch essenzielle Pause-Räume selbst unter extrem beengten Platzverhältnissen etablieren lassen, zeigt das Beispiel Hong Kong. Die Stadt im Perflussdelta steht schon lange prototypisch für die hochverdichtete Metropole, die letztlich nur noch in die Höhe expandieren kann. Trotz allem gibt es hier neben einigen größeren Parks ein Netz von mehr als 500 öffentlich zugänglichen Sitting-out Areas und Rest Gardens: kleine, teils klandestin oder inoffiziell wirkende Zwischenräume, die ausgestattet mit Pflanzen, Bänken, Sonnenschutz oder Wasserspielen als dringend notwendige grüne Ruhepole im städtischen Raumgefüge fungieren.
Mit diesem Phänomen näher auseinandergesetzt hat sich ein Rechercheprojekt im Masterstudiengang Landschaftsarchitektur der Universität Hong Kong unter Leitung von Xiaoxuan Lu, Susanne Trumpf und Ivan Valin. Von 2016 bis 2018 untersuchten die Studierenden das Potenzial der kompakten Miniparks, deren Größe sich zwischen 50 und 7.000 Quadratmetern bewegt. Dabei wurden 105 Orte dokumentiert, in Kategorien eingeteilt und im Rahmen verschiedener Ausstellungsformate in Shanghai, Guangzhou und Hong Kong präsentiert. 44 dieser Fallbeispiele sind nun in einer Publikation versammelt, die unter dem Titel Interstitial Hong Kong. Exploring the Miniature Open Spaces of High-Density Urbanism kürzlich im Jovis-Verlag erschien. Sie kann als Plädoyer für kleinste urbane Nischen und Zwischenräume gelesen werden, die – wie der Klappentext des Buches verrät – im lokalen Sprachgebrauch mitunter auch unter dem Terminus „dreieckige Scheißgruben“ firmieren und bislang kaum als kollektive Ressource wahrgenommen wurden.
Meist an steilen Hängen liegend oder eingekeilt zwischen Hochhäusern und großen Verkehrsachsen, sind einige dieser Raumfragmente auf den ersten Blick kaum auszumachen und mitunter auch schwer zu erreichen. Das Buch nähert sich ihnen zum einen in Form mehrerer theoretisierender Essays, die geologische, stadtplanerische, infrastrukturelle und historische Aspekte ihrer Entstehung und aktuellen Präsenz beleuchten. Dabei kommen auch einige städtebauliche Besonderheiten Hong Kongs zur Sprache: als „City without ground“, durchzogen von einem regelrechten Labyrinth an erhöhten Walkways, Brücken oder Unterführungen, die Fußgänger*innen so durch die Stadt führen, dass sie dabei kaum einen Fuß auf „festen Boden“ setzen; als instabiles, von großen Höhenunterschieden geprägtes Terrain – teils dem Meer abgerungen oder terrassenartig in die steilen Hügel geschlagen –, das permanent von Erdrutschen bedroht ist; als ehemalige britische Kolonie, gezeichnet von einer rapiden Urbanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und den Versuchen, dabei Elemente britischer Stadtplanungstheorien zu implementieren.
Zum anderen lädt der zweite Teil des Bandes mit zahlreichen Fotos, Zeichnungen und kurzen Beschreibungen ein, die überraschende Bandbreite dieser marginalen und zuweilen etwas skurril anmutenden „Sitz- und Ruhe-Zonen“ zu entdecken – sei es auf einem Spaziergang vor Ort oder beim Durchblättern des Buches. In einem kurzen Index sind die Miniparks auf Karten der beiden wichtigsten Stadtteile Hong Kong Island und Kowloon verzeichnet. Anschließend erfolgt die Darstellung der ausgwählten Fallbeispiele, unterteilt in sechs so spannend wie poetisch klingende Kategorien: Lapse (Heritage Signifier), Misfit (Infrastructural Spanner), Rift (Geodynamic Filler), Littoral (Terrestrial Anchor), Gap (Density Deconstructor) und Lacuna (Ecological Amplifier). Sie erzählen von urbanen Leerstellen, Ankern und Verstärkern und zeigen die Vielfalt dieser Raumtypologie. Sie reicht von der pragmatischen Komposition über den infrastrukturellen Lückenfüller bis zum verwilderten Garten.
Text: Diana Artus
Interstitial Hong Kong. Exploring the Miniature Open Spaces of High-Density Urbanism
Xiaoxuan Lu, Susanne Trumpf, Ivan Valin (Hg.)
Englisch mit zahlreichen Abbildungen
320 Seiten
Jovis Verlag, Berlin, 2021
ISBN 978-3-86859-689-2
32 Euro