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19.04.2023

Buchtipp: Wildes Bauen

Huts, Temples, Castles


Die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg war gerade nach Düsseldorf gezogen und arbeitete dort an einer Fotoreportage über jugendliche Heroinsüchtige, als sie 1969 in Amsterdam auf das Jongensland stieß und zu fotografieren begann. Die Brache auf der nur mit dem Boot erreichbaren Ooster Ringdijk schien fast gänzlich in der Hand von Kindern zu sein. Hier saßen sie um Lagerfeuer, hielten Hühner und Kaninchen und bauten Behausungen, die von elaboriert bis baufällig reichten. Was zunächst ein bisschen an William Goldings dystopischen Roman Herr der Fliegen erinnert, muss nicht im Desaster enden – und hier lag die größte menschliche Katastrophe bereits in der jüngeren Vergangenheit.

Jongensland war Teil einer pädagogischen Bewegung, die ihren Anfang während des Zweiten Weltkriegs nahm. In Kopenhagen gründete eine Arbeiterwohnungsgenossenschaft 1943 den sogenannten Emdrup Junk-Spielplatz als weitgehend freiheitliche Enklave innerhalb des faschistisch besetzten Dänemarks. Nach Kriegsende wurden diesem Beispiel folgend europaweit Brachflächen und Bombenkrater offiziell zu „Abenteuerspielplätzen“ umgewidmet. Die Gründung des Amsterdamer Jongensland im Jahr 1948 ging letztlich auf eine Entscheidung der Amsterdamer Polizei zurück. Und obwohl ständig eine erwachsene Aufsichtsperson anwesend war, war das, was dort passierte, so unbändig frei und wild, dass es der deutschen Fotografin auch elf Jahre später noch wert erschien, festgehalten zu werden.

Auf der Brache, die die Jungen (und die trotz Verbotes doch hin und wieder anwesenden Mädchen) umwandelten und sich zu eigen machten, erwuchs eine Heterotopie nach Michel Foucault: Ein Ort innerhalb der Gesellschaft, der dennoch außerhalb dieser und nach eigenen Regeln existiert, und der eine gewissermaßen reinigende Funktion übernimmt – paradoxerweise für die Stadt, weil er junge, vermeintliche Delinquenten von den Straßen zu holen und zu beschäftigen vermochte. Es war ein Ort für die Jugendlichen, die dort nach den Kriegsjahren Freiheit und Selbstbestimmung erfahren konnten. Es war ein gesellschaftlich wirksamer Ort, weil die Jugendlichen durch eben diese gelebte Autonomie zu demokratisch mündigen und liberal denkenden Bürgern heranwachsen sollten. Und nicht zuletzt war es ein architektonischer Ort, was auch Schulz-Dornburgs Interesse am Sujet ausmachte: Die Fotografin fand in den aus Abfallprodukten gezimmerten Hütten, Tempeln und Burgen einen inspirierenden Gegenentwurf zum seelenlosen Wirtschaftswunder-Städtebau in Westdeutschland.

Im britischen Verlag MACK ist nun die Publikation Huts, Temples, Castles erschienen, die ihre bisher weitgehend unbekannte Serie aus Schwarz-Weiß- und Farbfotografien versammelt. Sie zeigt den Aufbau, das Spielen und Toben in, um und auf, aber auch den Abriss und das Abfackeln der teils turmartigen Gebilde. Denn es geht nicht allein darum, dass dort etwas erschaffen wurde. Präziser: Der Formgebungsprozess ist nur ein Teil des Spiels und befeuert seinerseits wieder weitere Spiele. Fernab von Leistungsdruck und gänzlich auf die Erfahrung der Gegenwart konzentriert, erwächst genau dadurch das Unerwartete.

Dass diese Bilder nun, 50 Jahre nach ihrem Entstehen, erstmals veröffentlicht werden, hat in mehrfacher Hinsicht Relevanz. Zum einen wohnt ihnen sicher ein  ökologischer Faktor inne, wie es der Begleittext von Tom Wilkinson beschreibt. Der britische Kunsthistoriker setzt Spielplätze wie das heute noch an anderer Stelle und unter anderen Vorzeichen als Jeugdland existierende Jongensland in Kontext der Ideen des Team X und Aldo van Eycks – und spricht der dortigen Wiederverwendung von Müll einen nahezu revolutionären Charakter zu. Doch auch jenseits des Recyclinggedankens regt die Kraft, die die Fotografien transportieren, zum Nachdenken an. Was können wir aus der gezeigten Unmittelbarkeit und Selbstregulation in Zeiten des massiv gestiegenen Sicherheitsbedürfnisses lernen? Nicht zu Unrecht inspirierten Schulz-Dornburgs Bilder in Berlin kürzlich ein Symposium zur Frage, inwieweit Jugendliche und ihre Bedürfnisse in der heutigen Stadtplanung mitgedacht werden.

Das Cover des Buches hingegen wirkt fast wie ein resignierter Kommentar zum Thema. Mit dem zarten Schwarz-Weiß-Druck auf matt-beigem Hintergrund erscheint es wie ein langsam verblassendes Sepiafoto, und diese Form von spielerischem Anarchismus wie eine kostbare Erinnerung, die zu schwinden droht, wenn wir jetzt nicht handeln. Es obliegt nicht allein den kommenden Generationen, sich ihre eigenen Freiräume zu erobern.

Text: Kathrin Schömer

Huts, Temples, Castles

Ursula Schulz-Dornburg
Englisch
80 Seiten
MACK, London 2022
ISBN 978-1-913620-82-0

45 Euro


Zum Thema:

Noch bis Mittwoch, 17. Mai 2023 sind die Fotografien Schulz-Dornburgs in einer Ausstellung im Berliner Architekturforum Aedes zu sehen.


Kommentare:
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Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

Ursula Schulz-Dornburg, Bild aus Huts, Temples, Castles (MACK, 2022)

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