Seit der Yuan-Dynastie ab dem 13. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein prägten die sogenannten Hutong-Viertel die chinesische Hauptstadt Peking. Sie umgaben die Verbotene Stadt, die im Zentrum liegt und bis 1911 Sitz des Kaisers war. Die Bevölkerung lebte traditionell in sogenannten Siheyuan: eingeschossige, rechteckige Wohnhöfe. Als Hutongs werden die schmalen Straßen zwischen diesen Wohnhöfen bezeichnet, die mit ihrer kleinteiligen Bebauungsstruktur Zentren des sozialen Lebens waren.
Hutongs sind das zentrale Motiv der Schwarz-Weiß-Aufnahmen Xu Yongs, die der Kerber Verlag mit dem Fotobuch Hutong 101 Photos dieses Jahr erstmals in Europa veröffentlicht hat. Der 1954 in Shanghai geborene Künstler nahm die Bilder 1989/90 auf. Seitdem waren sie – nach der direkten Erstveröffentlichung in China – Teil unterschiedlicher Publikationen und weltweiter Ausstellungen. Dadurch haben sie auch eine gewisse Bekanntheit erlangt.
Heute gibt es in Peking nur noch wenige Hutongs. Nach dem Ende des chinesischen Kaiserreiches verloren viele der alten zentrumsnahen Quartiere ihre Bedeutung oder wurden überformt. In den 1950er und 60er Jahren fielen viele Viertel der sogenannten Kahlschlagsanierungen zum Opfer, in deren Folge große Wohnblöcke gebaut wurden. Mit der Öffnung Chinas nach Westen ab den späten 1970er Jahren setzte ein Bauboom in der Stadt ein, der in den vergangenen Jahrzehnten die traditionelle Stadtstruktur weiter veränderte.
Xu Yongs ausdrucksstarke Aufnahmen zeigen unverkennbar den langsamen Zerfall der Hutongs, der mit ihrem Bedeutungsverlust einherging. Doch mehr noch als eine desolate Bausubstanz zeigen die Bilder eine jahrhundertealte, kunstvolle Wohnarchitektur, die die Hutongs kennzeichnet. Bis auf das letzte Bild einer Familie sind die Aufnahmen menschenleer. Das alltägliche Leben lässt sich nur erahnen – etwa anhand abgestellter Fahrräder, Wäscheleinen, Pflanztrögen oder Bänken.
Wohl auch aufgrund reizvoller Einblicke wie diesen wandelte sich in den vergangenen Jahren das Verständnis für die Bedeutung der historischen Nachbarschaften. Die innerstädtischen Hutong-Viertel sind als Wohnorte wieder attraktiv geworden und stehen mittlerweile zu einem Großteil unter Denkmalschutz.
Text: Sophie Marthe
Hutong 101 Photos
Xu Yong
Englisch/Chinesisch
160 Seiten
Kerber Verlag, Bielefeld 2024
ISBN 978-3-7356-0981-6
48 Euro
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