Aus den Niederlanden ist man ja manch überraschenden gestalterischen Ansatz gewohnt. Aber dass man sich beim Entwurf eines Wohnhochhauses von einem Gefängnis inspirieren lässt, wie es OMA (verantwortliche Partner: David Gianotten und Reinier de Graaf) in Amsterdam getan haben, lässt wirklich staunen. Ist das Wasser auf die Mühlen all derer, die den zeitgenössischen Geschosswohnungsbau und insbesondere Wohnheime gerne als eine Art besseres Gefängnis kritisieren?
Vielleicht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Die Geschichte ist komplex und beginnt im Jahr 1978. Damals eröffnete im Südosten Amsterdams das Gefängnis Bijlmerbajes (bajes heißt auf Deutsch „Knast“). Die Anlage bestand aus sechs weitgehend identischen 17-Geschossern, einer zentralen Erschließungsachse sowie einem annähernd quadratischen, flachen Verwaltungsbau mit einem großen Innenhof, der zugleich als Eingang fungierte.
Das Konzept Hochhausgefängnis klingt abschreckend, und die in Großtafelbauweise errichteten Türme mit ihren repetitiven quadratischen Fensteröffnungen sehen insbesondere in ihrer Reihung wirklich streng aus. Tatsächlich lag dem Gefängnis jedoch ein zeittypisch progressives Konzept des Strafvollzugs zugrunde, das stark auf Resozialisierung setzte. Der Ansatz blieb immer umstritten. 2016 wurde die Anlage, die zu Hochzeiten circa 1.200 Insassen hatte, geschlossen.
Ein Jahr später lag bereits der Masterplan von OMA vor. Er war aus einem Wettbewerb hervorgegangen, den der neue Eigentümer des Areals, AM Real Estate, veranstaltet hatte. 7,5 Hektar Fläche werden seither unter dem Label Bajes Kwartier entwickelt. Der Verwaltungsbau und ein Hochhaus bleiben erhalten und werden transformiert, das restliche Areal aber soll neu und dicht bebaut werden. Schwerpunkt des gemischten Quartiers mit 135.000 Quadratmetern Fläche ist das Wohnen. Der Masterplan sieht insgesamt 1.350 Eigentums- und Mietwohnungen mit einer Gesamtfläche von 97.000 Quadratmetern vor. Davon lassen sich laut Architekt*innen 30 Prozent dem Segment des sozialen Wohnungsbaus zurechnen.
OMA sind für den Entwurf von vier Wohnbauten verantwortlich, doch das Ende letzten Jahres als erstes fertiggestellte Wohnhaus des Quartiers namens Jay sticht hervor. Es steht nicht nur genau an der Stelle, an der einst ein siebtes Hochhaus des Gefängnisses errichtet werden sollte, sondern es orientiert sich auch formal deutlich an den Bauten, in denen die Insassen lebten. In diesem Sinn darf man den Projektnamen als Anspielung auf das englische Wort jail für Gefängnis verstanden wissen.
Jay bietet 135 kompakte Apartments, die als Eigentumswohnungen vermarktet werden. Hinzu kommen die üblichen Funktionen eines solchen Hauses wie Co-Working-Flächen und ein gemeinschaftlicher Aufenthaltsbereich. Zwei Geschosse für das Abstellen von Fahrrädern sind in den Niederlanden wiederum nicht überraschend. Da OMA keine detaillierten Pläne veröffentlichen, kann man die konkrete Organisation des Hauses nur erahnen.
Das Büro betont, dass Nachhaltigkeit ein ganz zentraler Aspekt des gesamten Bajes Kwartier sei. Ganze 98 Prozent der rückgebauten Hochhäuser seien wiederverwendet worden. Im Betrieb soll das Quartiern zu 100 Prozent klimaneutral sein. Neben dem nun fertiggestellten Jay realisieren OMA noch die Wohnhäuser Martin (das im nächsten Jahr fertig werden soll), Stern und Cardinal. Ob diese mehr bieten, als gehobenen Wohnungsbau an einem ungewöhnlichen Ort, wird sich zeigen. Auf jeden Fall spannend dürfte die Umgestaltung des erhalten gebliebenen Bestandshochhauses zum vertikalen Park Groene Toren durch das Amsterdamer Büro FABRICations werden. (gh)
Fotos: Ossip van Duivenbode
Zum Thema:
Unser Autor war im Dezember 2017 vor Ort, als Teile der Anlage als Unterkunft für Geflüchtete dienten und der Verwaltungsbau temporär als Tijdelijk Museum genutzt wurde. Eine Auswahl seiner damals entstandenen Fotos finden sich am Ende unserer Bildstrecke.
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Also | 18.03.2025 13:46 Uhrich
stimme hier 3 zu: das ist natürlich absurd erst alles abzureißen und dann wieder woanders genauso aufbauen und dann (Reinier de Graaf) als Kritiker des Abrisses aufzutreten. Totaler Blödsinn auf der Faktenebene.
Aber man muss das im Kontext von OMAs Herangehensweise sehen. Bauen als immersiver Kommentar der Realität, die dann aber so verfremdet und ins Extrem getrieben wird, und das Produkt als völlig "anders" erscheint (ob es das ist, kann man tatsächlich diskutieren). Alles zutiefst postmodern und dekonstruktivistisch. Aus dieser immersiven, aber immer distanzierten Position heraus haben sie faszinierende Bauwerke geschaffen (und Bücher geschrieben).
Und da bereitet es OMA auch kein Problem in China direkt für den Staat zu arbeiten oder sich an NEOM zu beteiligen. Wer sich einmal den Spaß erlauben will Reinier de Graaf in Höchstform zu erleben, der solle sich das Interview über Neom anschauen. Das intellektuelle 180 Grad Experiment ist ihm lieber als alle Realität; je absurder, desto bedeutsamer. Und aus dieser Perspektive ist natürlich ein Neubau in der Form des benachbarten Altbaus, der gerade abgerissen wird, als ein ironischer Kommentar, der in eigentümlicher Weise den genius loci bearbeitet und - tatsächlich - kritisiert, zu verstehen. Eigenartig faszinierend.
So weit, so gut: wenn da nicht die Realität wäre. Da wohnen ja Menschen, denen das alles Schnuppe ist. Einer der Gründe, warum ich eine echte Hassliebe zu OMA habe und vieles was (insbesondere Reinier de Graaf) sagt wirklich nicht ernst nehmen kann.