Architektur hat sich stets mit Habitat, Umwelt und Ökologie auseinandergesetzt. Zugleich hat sich unser Verständnis von Ökologie seit Ernst Haeckels erstem Definitionsversuch im Jahr 1866 stark gewandelt. Seit den 1960er Jahren wird sie zum Streitbegriff in der Architektur. Was ist denn nun eigentlich „ökologisch“? Der klimaaktive Lehmbau? Der Hightech-gedämmte, solarbetriebene Glasturm? Oder doch der Erhalt und die Sanierung des Nachkriegsbaus?
Ökologie ist – das macht Lydia Kallipoliti in ihrem Buch History of Ecological Design. An Unfinished Cyclopedia bereits in der Einleitung deutlich – ein Diskursfeld, das in mehrfacher Hinsicht Machtverhältnisse abbildet. Zum einen setzt Ökologie ein wissenschaftliches Verständnis der physischen Welt voraus, das unvermeidlich beeinflusst ist von großen ideologischen Überbauten wie der Ausbeutung der Natur durch den Kapitalismus oder einer anthropozentrischen und damit hierarchisierten Sicht auf die Dinge. Zum anderen gibt es innerhalb des Diskurses hegemoniale (zum Beispiel Regularien, bürokratische Mechanismen oder Zertifizierungen) und subversive (nicht-institutionelle, aktivistische) Vorstellungen, die interessengeleitet und zugleich ständigen Wandlungen unterworfen sind.
Ökologisches Bauen und Planen (im Sinne einer Hilfsübersetzung des Rezensenten für das „Ecological Design“ im Titel des Buches) ist also weder normativ – also per se „gut“ im Gegensatz zu einem „nicht-ökologischen Bauen“ – zu verstehen noch als einheitliche Strömung. Ganz im Gegenteil lassen sich darunter sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Ansätze subsumieren. Diese aufzufächern, ist Leistung der griechischen Architektin und Professorin an der Columbia University (GSAPP), die mit ihrer jahrelangen Forschung zum Thema als eine der wichtigsten Wissenschaftler*innen auf dem Feld gelten kann.
Kallipoliti teilt ihre Geschichte(n) grob in drei Phasen. Ihr zufolge ist der „Naturalismus“ (circa 1866–1945) geprägt von der Suche nach Wurzeln, der „synthetische Naturalismus“ (1945/1966–2000) von der Suche nach Systemen und der seither dominierende „Dark Naturalism“ von der Suche nach Daten.
Wichtig für unser heutiges Denken ist nicht zuletzt die Phase des „synthetischen Naturalismus“. In ihr fand laut Kallipoliti eine Abkehr vom klassischen Naturverständnis – Natur als Wildnis und dichotomes „Anderes“ zur menschengemachten Kultur – statt. Sattdessen ging es nun um Stoffwechselkreisläufe. Umweltprobleme wurden durch Diagramme repräsentiert und globale Ressourcen als miteinander verbundene Systeme untersucht.
International finden sich wichtige Wegbereiter dieses Denkens in den USA. Kallipoliti teilt sie in sechs Strömungen ein. Die „Climaticists“ sind an einer Klimasteuerung interessiert, die aktiv durch eine klimatisch versiegelte Hülle (etwa bei Reyner Banham) oder passiv durch Nachtauskühlung und Wärmespeicher (etwa bei Victor und Aladar Olgyay) erreicht werden soll. Die „World Planners“ wie Richard Buckminster Fuller oder Jan McHarg begreifen Umwelt als kybernetisches Ökosystem, in dem die Welt als ein planbares System aus Subsystemen gelesen wird. „Outlaws“ wie Lloyd Kahn, Steve Baer oder Ant Farm entwickeln (aus der US-amerikanischen Gegenkultur heraus) in der Wüste und ländlichen Gebieten Drop-Out-Praktiken in Selbstbauweise. Diese wiederum führen hin zu den „Autonomists“ wie Paolo Soleri, Sim Van der Ryn oder John Todd auf der einen Seite und „Garbage Architects“ wie Martin Pawley oder Witold Rybczynski auf der anderen Seite.
Wer bei all den Namen und Strömungen irgendwo den Faden verliert – verständlich. Auch zeigt sich die Publikation nicht als strikt aufgebaute „große Erzählung“ der Geschichte des ökologischen Bauens und Planens. Vielmehr strickt die Autorin ein dichtes Netz an Ideen und Verbindungslinien. Der Anspruch einer „unvollendeten Enzyklopädie“ – so der Buchuntertitel – unterstreicht den Ansatz. Man kann also unabhängig voneinander in die gut 20 Texte des Buches eintauchen.
Warum ist das alles lesenswert? Weil das Buch die gegenwärtig mithin unterkomplex geführte Diskussionen um Nachhaltigkeit mit ihrem Fokus auf CO2-Emissionen oder Energiekosten – für Kallipoliti bezeichnend für die Suche nach „objektiven“ Daten – theoretisch anreichert. Es eröffnet neue Sichtweisen, mit denen wir uns die (gebaute) Umwelt begreiflich machen können. Indem die Autorin Begriffe problematisiert und sich einfacher Zuschreibungen verweigert, macht sie uns fit für eine fundierte Reflexion. Diese lohnt angesichts von Klimakrise und sozialen Ungleichheiten allemal.
Text: Alexander Stumm
Histories of Ecological Design. An Unfinished Cyclopedia
Lydia Kallipoliti
Englisch
280 Seiten
Actar Publishers, Barcelona 2024
ISBN 9781638400738
35 Euro