Gehen wir in medias res: Dieses Buch ist der Hit, eine unbedingte Empfehlung! Denn hinter dem blassgrünen Cover mit dem maximal schlichten Titel
Hermann Funke. Architekturkritiken 1962–2003 verbirgt sich allerbeste intellektuelle Unterhaltung aus der alten Bundesrepublik. Deutsche Nachkriegsmoderne? Muss das sein?
Hermann Funke? Nie gehört? Trotzdem kaufen und vor allem: lesen! Und zwar – dieser naheliegende Einwand ist berechtigt und muss hier sofort entkräftet werden – auch dann, wenn man weder selbst über Architektur schreibt noch historisch zur Architekturgeschichte der jungen BRD arbeitet.
Warum also ein Buch lesen, in dem Dutzende historische Zeitungsartikel versammelt sind, die der 1932 geborene Wahl-Hamburger Funke in erster Linie für die
Zeit und in weitaus geringerem Maße für den
Spiegel schrieb? Sicherlich, weil Funke wohl als erster echter Architekturkritiker der deutschen Publikumspresse gelten darf. Vor allem aber, weil er die Latte verdammt hoch gehängt hat und Architektur im allerbesten und klügsten Sinn gesellschaftlich rezipiert. Dabei ist er in seinen Beobachtungen unglaublich präzise, in seiner Kritik immer fair und zuweilen gnadenlos, in seiner Sprach klar, verständlich und voller trockenem Humor.
Klar, man kann Funkes Artikel natürlich als historische Texte lesen. Aber man muss eben nicht, denn das Entscheidende ist, dass die Art und Weise, wie er Architektur und Planung diskutiert und kritisiert, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat und die Sinne schärft für das Wesentliche. Mal identifiziert er mit professionellem Blick für das Detail in den falsch platzierten Waschbecken und Heizkörpern eines Frankfurter Typenhauses die wohnungspolitischen Missstände des Landes. Mal zerlegt er eine protzig-vulgäre Villa anhand einer Analyse der misslungenen Grundrisse, die in dem schönen Satz zur Platzierung der Anrichte gipfelt: „Sollte man nicht erwarten, dass die Gäste durch eine andere Tür kommen als die Spanferkel?“
Mit Blick auf die heutige Architekturkritik sticht nicht zuletzt ins Auge, dass Funke weder auf billige Weise polarisiert noch reißerisch-provokative Formvergleiche zeichnet oder schnelle feuilletonistische Pointen um ihrer selbst willen formuliert – zwei zuweilen mühsame Unsitten heutiger Architekturkritik in der deutschen Tagespresse.
Der Untertitel suggeriert etwas anderes, doch das Buch bietet größtenteils Texte aus dem Zeitraum 1962 bis 71 sowie einige wenige aus den Jahren 1980 bis 86. Dann folgt eine lange Pause und als Abschluss des Buches wie ein donnernder Paukenschlag Funkes langer Text über das Berliner Bundeskanzleramt, den er 2003 in der linken Wochenzeitung
Jungle World publizierte. Es ist ein grandioser Beitrag, in dem Funke den politischen und architektonischen Weg zum gebauten Haus nachzeichnet und dabei sowohl die Geschichte des Ortes als auch
Helmut Kohls Machtpolitik und die Untiefen des Wettbewerbswesens seziert.
Spannend wie in einem Krimi schildert er (unter Rückgriff auf
Heinrich Wefings Buch
Kulissen der Macht) die Szene, in der der Entschluss für
Axel Schultes und
Charlotte Frank fällt. Als letzter Konkurrent war damals der gediegene, klassisch und axialsymmetrisch geordnete Entwurf des jungen Ostberliner Büros
KSV Krüger Schuberth Vandreike im Rennen verblieben, mit dem Funke eindeutig sympathisiert und hinter dem die Jury lange ein italienisches Büro vermutete. Funkes scharfes Fazit zum Moment als die Anonymität der Unterlegenen aufgedeckt wird, ist ein weiterer der vielen wunderbaren Sätze in diesem Buch, die unglaublich tief blicken lassen: „Sie waren nicht mehr der große unbekannte Italiener, sondern drei kleine Ossis unter Faschismusverdacht.“
Text: Gregor Harbusch
Hermann Funke. Architekturkritiken 1962–2003
Daniel Funke (Hg.)
354 Seiten
adocs, Hamburg 2022
ISBN 9783943253573
26 Euro