Rund 330 Künstler*innen versammelt die diesjährige Biennale, mutmaßlich so viele wie noch nie. Mit Lina Bo Bardi hat dabei auch eine alte Bekannte aus der Architektur ihre Premiere in der 60. Kunstausgabe. Diese ist unter Kurator Adriano Pedrosa mit einem starken Fokus auf historisch marginalisierte Positionen überraschend intim geraten. Die Megastars der Gegenwartskunst mussten dabei draußen bleiben und mit ihnen das große Geld der Galerien. Kein Schaden für die Ausstellung, die gänzlich ohne Spektakel auskommt.
Von Stephan Becker
Von Dach zu Dach zu Dach tropft das Wasser, über Wellblech hinweg, in Tonnen hinein und durch kleine Löcher wieder heraus. Am Ende landet das Wasser in einem schwarzen Bassin, von wo es wieder zum Ausgangspunkt zurückgepumpt wird. Leicht dadaistisch mutet diese Konstruktion an, doch sie zeugt, natürlich, von einem ernsten Hintergrund. Daniel Otero Torres hat sie gebaut, inspiriert von wassersammelnden Gemeinschaftsbauten am Río Atrato in Kolumbien. Durch illegalen Goldabbau ist dieser derart verseucht, dass für die Menschen dort nur Regenwasser als wirklich sicher gilt. Dem chilenischen Künstler ist damit eine der eindrücklichsten Arbeiten der diesjährigen Biennale gelungen, die zugleich zu den wenigen größeren Rauminstallationen zählt.
Kuratiert hat die diesjährige Ausgabe der Kunstbiennale der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa, die äußerst zurückhaltende Ausstellungsgestaltung stammt von Juliana Ziebell. Titel und Motto sind einer Arbeit der 2004 in Paris gegründeten Künstler*innengruppe Claire Fontaine entliehen. Neonschriftzüge in vielen Farben und zahllosen Sprachen verkünden: „Foreigners Everywhere“. Dem Fremdsein als menschlicher Grundkondition kommt angesichts der zahlreichen aktuellen Krisen samt resultierender Fluchtbewegungen eine besonders dringliche Bedeutung zu. Pedrosa, der erste homosexuelle Direktor der Biennale, versteht den Begriff ganz generell als Zustand des Nichtdazugehörens. Und dieser Zustand kann für ihn durchaus auch eine positive Konnotation haben, wenn der Fremde ankommt, wenn er mit dem, was er vorfindet, zu arbeiten beginnt. Es ist denn auch eine Freude an der Hybridität, die viele Beiträge prägt und die als starkes Zeichen gegen den aktuellen, länderübergreifenden Rechtsruck verstanden werden kann. Ob solche Setzungen auch in Zukunft möglich sein werden angesichts des neuen Biennale-Präsidenten Pietrangelo Buttafuoco, der eng mit Giorgia Meloni verbündet ist?
Im Kontrast zur aktuellen Dringlichkeit des Themas stellt sich die Ausstellung selbst allerdings überraschend historisch dar. Pedrosa hat „Foreigners Everywhere“ im Grunde als ein Museum konzipiert, das, fein säuberlich nach Abteilungen sortiert, eine Vielzahl bereits etablierter Künstler*innen versammelt. Hier gibt es Abstraktion und dort Porträts, queere Positionen finden Sie hinten rechts und textile Arbeiten eher im Arsenale – so könnte man seine etwas spröde Präsentation, die zu einem großen Teil auf „Flachware“ setzt, etwas spitz interpretieren. Entscheidend ist aber, dass es sich zu einem großen Teil um Künstler*innen handelt, die in der sogenannten westlichen Welt keineswegs zum Kanon gehören. Und dazu zählen natürlich auch marginalisierte Positionen aus Europa wie die zeitlebens psychisch kranke Schweizer Art-brut-Vertreterin Aloïse Corbaz. Dabei fällt auf, wie das vermeintlich Naive als Stil auch bei jüngeren – und vor allem: noch lebenden – Teilnehmer*innen der Biennale als spätes Echo wiederauftaucht. Die in Berlin arbeitende Künstlerin Sol Calero hat beispielsweise in den Giardini eine ihrer fast schon obsessiv bunt bemalten Raumkonstruktionen errichtet.
Erwähnung muss noch einer der schönsten Räume der diesjährigen Biennale finden. Er ist den zahlreichen Künstler*innen der italienischen Diaspora des 20. Jahrhunderts gewidmet und – was könnte passender sein – mit den berühmten gläsernen Stellwänden der Italobrasilianerin Lina Bo Bardi ausgestattet. Dieses System hatte sie einst für das von ihr entworfene Museu de Arte de São Paulo gestaltet, das heute – so schließt sich der Kreis – von Adriano Pedrosa geleitet wird. Kunst und Besucher*innen überlagern sich hier und treten in einen visuellen Dialog. Was praktischerweise auch daran erinnert, dass Kunst keineswegs nur auf klinisch weißen Wänden präsentiert werden muss. Eine Erkenntnis, die hier und da auch der übrigen Ausstellungsgestaltung nicht geschadet hätte.
Fotos: Andrea Avezzù, Matteo de Mayda, Marco Zorzanello, Courtesy La Biennale di Venezia, Stephan Becker
Zum Thema:
Die Kunstbiennale in Venedig läuft vom 20. April bis zum 24. November 2024. Alles über den sehenswerten deutschen Beitrag: „Ein Pavillon und eine Insel“.
www.labiennale.org
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