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15.12.2020
Buchtipp: Die Umwelt sind wir
Habitat. Ecology Thinking in Architecture
Beim CIAM 1956 in Dubrovnik kamen die wichtigsten Architekt*innen der Zeit zusammen, um mit der sogenannten „Charta of Habitat“ die Richtung für Architektur und Planung in Bezug auf das Wohnen vorzugeben. Doch erstmals konnte sich der längst zur intellektuellen Leitplattform aufgestiegene Kongress nicht auf eine gemeinsame offizielle Erklärung einigen. Das interne Dokument mit der klaren wie lapidaren Aufschrift „not for publication“ stellt für die Publikation Habitat. Ecology Thinking in Architecture gerade ob seiner „streitlustigen und agnostischen Qualitäten“ den Ausgangspunkt, um unterschiedlichen Entwicklungslinien des Wohnens der letzten Jahrzehnte nachzuspüren. Der Band baut auf der wissenschaftlichen Installation Habitat: Expanding Architecture im Het Nieuwe Intituut von 2018/19 auf. Diese ist Teil des Ausstellungs- und Forschungsprojekts „Total Space“, dessen Kernthese lautet, dass Architektur und Stadtplanung als ökologische Systeme verstanden werden können.
Die Autoren des Buches sind Dirk van den Heuvel, seines Zeichens Professor am Lehrstuhl für Architektur & Wohnen der TU Delft und Leiter des Studienzentrums Jaap Bakema am Het Nieuwe Instituut in Rotterdam, der Architekturhistoriker Janno Martens und der Architekt Victor Muñoz Sanz. Ihr Argument: Habitat brachte 1956 einen Wandel von der Architektur als abstraktem, intellektuellem, funktionalem Konstrukt (wie in der Charta von Athen fixiert) hin zu einer Praxis, die intuitiv mit den jeweils eigenen situativen Kontexten arbeitet – um „eine raue Poesie aus den verwirrten und mächtigen Kräften herauszuziehen, die stets am Werk sind“, wie die Vorkämpfer des Brutalismus Allison und Peter Smithson 1957 feststellten. Korrekt muss hier von einem „proto-ökologischen“ (Kenneth Frampton) oder einem ökologischen Architekturdenken avant la lettre gesprochen werden.
Kurz zum Begriff Habitat: Dieser fand zuerst in der Biologie, Anthropologie und Sozialgeografie Verwendung, bevor er sich in der Architektur etablierte – dann aber über mehrere Wege. Lina Bo Bardi und ihr Ehemann Pietro hatten in Brasilien schon 1950 ihre (kurzlebige) Zeitschrift Habitat gegründet, Moshe Safdie betitelt seinen berühmten, 1967 fertiggestellten Wohnhauskomplex in Montréal so, und in den 1970er Jahren entwickelt sich das Programm UN-HABITAT der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen.
Die definitorische Unschärfe stellt den Autoren zufolge zugleich das Potenzial des Begriffs dar. Habitat steht für ein offeneres Verständnis von Architektur mittels eines neuen, ökologischen Denkansatzes. Architektur wird dabei nicht als autonome Disziplin, sondern als Teil eines größeren, dynamischen Ganzen betrachtet. Nun spukt der Trend einer more-than-human oder multispecies-cohabitation spätestens seit Donna Haraway in mehr oder weniger diffusen Formen durch den Architekturdiskurs. Was die Publikation interessant macht, ist die streng historisch arbeitende Analyse.
Das Buch beschränkt sich dabei auf die Auswirkungen, die die nicht finalisierte Charta of Habitat der CIAM – mit den Mitglieder*innen des Team 10 als Keimzelle – nach sich zog. Ein erster Teil widmet sich intensiv den auf der CIAM gehaltenen Präsentationen. Die visuell großzügige Dokumentation ist ein Augenschmaus, außerdem enthält sie die wunderschöne, „Habitat“ betitelte Schriftrolle von Alison und Peter Smithson von 1956 als ausklappbares Faksimile.
Der Hauptteil widmet sich daran anknüpfenden Projekten. Im Fokus steht zum Beispiel die Siedlung Tanthof südlich von Delft, und hier speziell die von Van den Broek & Bakema 1975–81 realisierte Nachbarschaft. Die Anordnung der Häuser orientiert sich am historischen Bauernhof, bei dem die Gebäude um den Hof herum gruppiert sind, die Architektur in Holz und Betonziegeln sowie mit Schrägdächern bedient sich klar am Vernakulären. Durchzogen ist das Quartier von mehreren Kanälen. Bei der nördlichen Voliere im Londoner Zoo von 1961–65 versuchte Cedric Price mit dem Ingenieur Frank Newby, den Vögeln nicht ein möglichst „natürliches“ Habitat zu errichten, sondern übersetzte die Bauaufgabe als modernen Begegnungsort von Mensch und Tier. Brutalistische Formensprache vermischt sich hier mit aus heutiger Sicht nicht unproblematischem kybernetischem Gedankengut. Price: „Es liegt jenseits der Kunst des Verhaltensforschers, alle Reaktionen der Nutzer*innen, seien es Menschen oder Tiere, innerhalb einer bestimmten Struktur vorherzusagen. Daher muss die Architektur hinreichend genau sein, damit dieses Element des Zweifels und der Veränderung eingeschränkt werden kann.“
Neben gebauten Projekten finden sich Studien wie die morphologischen Karten von Pjotr Gonggrijp als „Psycho-Analyse der Deltaregion“. Anhand verschiedener Beispiele wie Hamburg, London, Rotterdam und weiteren Städten in den Niederlanden werden Vorschläge für eine Besiedlung und Urbanisierung gemacht. Beiträge von Frits Palmboom, Erik Rietveld, Hadas Steiner, Georg Vrachliotis und Leonardo Zuccaro Marchi bringen die Arbeiten dem Leser näher. Wer ökologisches Denken in der Architektur nicht als theoretisches Luftschloss, sondern als eine freilich ausschnitthafte, dafür streng historisch operierende Genealogie nachvollziehen will, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.
Text: Alexander Stumm
Habitat: Ecology Thinking In Architecture
Dirk van den Heuvel, Janno Martens und Victor Muñoz Sanz (Hrsg.)
176 Seiten, Englisch
Nai010 Publishers
ISBN 9789462085565
39,95 EUR
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Jaap Bakema (links), Peter Smithson und Jacqueline Tyrwhitt diskutieren den Beitrag der MARS Group auf der CIAM in Dubrovnik, 1956. (Fotograf unbekannt)
Alison Smithson auf der CIAM Konferenz in Dubrovnik, 1956.
Fold Houses. Präsentationstafel von Alison und Peter Smithson auf der CIAM 1956.
Buchcover
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