Mit ikonischen Architekturansichten ist es so eine Sache. Einerseits verankern sie wichtige Bauten im Gedächtnis, andererseits überdecken sie vieles hinter dem einen entscheidenden Bild. Für das Rathaus in Marl von Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema gilt das ganz besonders. Jeder kennt den Blick über City-See oder Creiler Platz auf die beiden Türme und die davor liegenden, an Le Corbusier erinnernden Flachbauten. Doch erst ein Rundgang durch das weitläufige Ensemble macht klar, dass die nordrhein-westfälische Stadt hier über ein veritables Meisterwerk des Brutalismus auf höchstem internationalen Niveau verfügt.
Das sah bereits der Gestalter Otl Aicher so, als er zur Eröffnung des Hauses 1967 fasziniert, aber durchaus ambivalent formulierte: „Der Besucher wandelt durch ein fast expressionistisches Kunstwerk, ohne Wiederholung von Raumfolgen oder Details; nichts ist nach Katalog bestellt, alles ging über das Papier des Architekten. Es ist in seiner Art ein – heute überlebtes – Kleinst-Brasilia, aber es erfüllt auch noch als Entgleisung seine stimulierende Funktion. Vielleicht erzeugt es sogar ein befreiendes Gefühl, sehr viel Geld für etwas zum Fenster hinausgeworfen zu haben, wofür man sonst überhaupt kein Geld hat: für Ästhetik.“
Tatsächlich verrät das Rathaus in Marl viel über Wohlstand, Anspruch und Modernität einer prosperierenden Industriestadt in der alten Bundesrepublik. 1957 hatte die Stadt einen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben, in dem sich die beiden Niederländer unter anderem gegen Alvar Aalto, Arne Jacobsen, Sep Ruf, Rudolf Schwarz und Hans Scharoun durchsetzen konnten. Zehn Jahre später wurde das Haus eröffnet. Die Konstruktion der beiden sogenannten Dezernatstürme als Hängehochhäuser war ein Novum in Deutschland.
Für Jahrhunderte solle das Rathaus stehen, wünschte sich Bürgermeister Rudolf Ernst Heiland zur Eröffnung. Doch die ersten Bauschäden am „kühnsten und verwegensten Rathaus der Deutschen“ (so die Zeitschrift Merkur) ließen nicht lange auf sich warten. Als wichtiger Chemiestandort hatte Marl auf die Verwendung neuer Kunststoffe gesetzt, was dazu führte, dass bereits ein Jahr nach der Eröffnung Teile des Dachs neu eingedeckt werden mussten. Bald erwiesen sich die Fenster der Türme als undicht. In den 1980ern wurde die Konstruktion in beiden Türmen aufwändig ertüchtigt.
Seit 2009 diskutierte man in Marl Sanierung und Denkmalschutz des maroden Hauses. Sogar ein Abriss stand eine Zeit lang im Raum. Doch anders als der visionäre Rathauskomplex im 70 Kilometer entfernten Ahlen, steht das Rathaus in Marl seit 2015 unter Denkmalschutz. 2016 erhielten HPP Architekten (Düsseldorf) im Rahmen einer EU-weiten Ausschreibung den Auftrag zur Sanierung des Hauses.
Im November letzten Jahres begannen die Sanierungsarbeiten an den beiden Türmen und dem Zentralgebäude. Am Sitzungstrakt mit seinem eindrucksvollen Betonfaltwerkdach wird erst ab nächstem Jahr gearbeitet. Die Architekt*innen werden das Rathaus denkmalgerecht und energetisch sanieren, haustechnisch erneuern und zu einem „sozialen Rathaus“ umgestalten, das „zusätzliche Angebote bieten und zentraler Treffpunkt für die Bevölkerung sein soll", heißt es in der entsprechenden Pressemitteilung.
Über die nun anstehenden Schritte schreibt die Stadt: „Ab März wird in beiden Türmen die Außenfassade komplett entfernt. Der überwiegende Teil der Aluminiumpaneelen wird überarbeitet, einige werden ausgetauscht. Die Wärmedämmung der Fassaden wird dabei auf den neusten technischen Stand gebracht. Im Rahmen der energetischen Sanierung werden die Fenster durch neue, wärmegedämmte und langlebige Alu-Fenster in entsprechender Farbgebung ersetzt. Das gesamte Rathausgebäude wird denkmalgerecht saniert, die Optik der Türme bleibt somit erhalten.“ Besonderes Augenmerk legen alle Beteiligten auch auf die behutsame Sanierung des französischen Marmors, der edlen Holzvertäfelungen sowie der Wandmosaike, die vor allem im Sitzungstrakt zu finden sind.
Die Stadt Marl gibt derzeit einen Kostenrahmen von 70 Millionen Euro für das Projekt an. Damit ist die Sanierung das teuerste kommunale Projekt, das die Stadt jemals gestemmt habe, schreibt die Marler Zeitung. Dass es angesichts solcher Superlative vor zwei Jahren sogar ein Bürgerbegehren gegen die Sanierung gab, verwundert nicht. Vielleicht kann das Ergebnis auch die Skeptiker überzeugen? 2024 sollen die Mitarbeiter*innen das ertüchtigte Rathaus wieder beziehen können. (gh)
Zum Thema:
2017 haben die Kunsthistorikerin Alexandra Apfelbaum und der Fotograf Moritz Kappen die Publikation „Eventuell für Jahrhunderte gebaut. Das Rathaus Marl. Ein Essay in Bildern“ herausgegeben. Das im Kettler Verlag erschienene Buch erlaubt an Hand aktueller und historischer Aufnahmen sowie dreier Texte einen hervorragenden Einblick in das Haus und seine Geschichte.
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Dr. Yikes | 22.02.2021 19:56 Uhrlandmark
Erinnert mich an die Prestigebauten in China dieser Tage. Genauso deplatziert und rückständig, nur eben provinziell im Maßstab. Und ich wette, die Fans des Ruhrpottbrutalismus sind auch die größten Kritiker der Sino-Gigantomanie. Hüben wie drüben gilt: abreißen und das Land im menschlichen Maßstab re-urbanisieren. Es kann echt nicht sein, daß die Bewohner dieses Riesensozialbaus nebenan Zeugen sein müssen, wie für Geldmittel im Gegenwert von 200 Häusern dieses Gruselkabinett am Leben gehalten wird.