In den Sommermonaten 2024 verbuchte der Parco Archeologico di Pompei mit rund vier Millionen Besucher*innen einen Rekord. Um das ebenso einzigartige wie fragile Erbe der weltberühmten italienischen Stadtruine künftig vor den zerstörerischen Folgen des Massentourismus zu schützen, gilt seit November ein limitiertes Kontingent von maximal 20.000 personalisierten Tickets pro Tag.
Eine ganz neue Perspektive auf die im Jahr 79 beim Ausbruch des Vesuvs verschüttete, im 18. Jahrhundert wiederentdeckte und bislang zu zwei Dritteln ausgegrabene Ruine eröffnet der Band Pompeji. Der architektonische Blick des Architekturfotografen Hans Georg Esch. Eindrucksvolle Abbildungen von Straßenfluchten, Kreuzungen und Plätzen, zu Teilen aus der Vogelperspektive, animieren zum detailhaften Erkunden von antiken Säulen, Kapitellen, Pflastersteinen und städtischen Geweben bis an die Bildränder und Horizonte.
Neue Strahlkraft gewann der Parco Archeologico di Pompei, dem noch vor etwas mehr als zehn Jahren nach andauernder Vernachlässigung und korrupter Kulturpolitik Verfall, Vandalismus und sogar die Aberkennung des UNESCO-Welterbestatus drohten, durch einen EU-finanzierten Aktionsplan. Er ermöglichte ab 2012 die stufenweise Sicherung der denkmalgeschützten Monumente und Kunstwerke und in deren Folge schließlich neue Grabungen auf dem 66 Hektar großen Gelände, die inzwischen regelmäßig aufsehenerregende Funde zu Tage fördern.
Die jüngste Maßnahme zur Einlassbeschränkung setzt auf Nachhaltigkeit im Umgang mit der antiken Welterbe- und zugleich hochmodernen Forschungsstätte. Sie ist Teil des innovativen Kommunikations- und Vermittlungsprogramms ihres 2021 berufenen Direktors Gabriel Zuchtriegel, das an die Gegenwart anknüpft. Für Zuchtriegel ist Pompeji „wie ein Riss in der Leinwand, durch den wir die Möglichkeit haben, einen Blick hinter die offizielle Version der Geschichte zu werfen“. Ein Ort der Alltagsgeschichte, an dem wir uns – auch jenseits allen Vor- und Fachwissens – von der Kunst und Lebenswelt der Antike emotional berühren lassen.
In dieses Programm passt der Band von Hans Georg Esch, der inzwischen auch Kooperationspartner des Parco Archeologico ist, auf geradezu kongeniale Weise. Neben seiner Arbeit für Architekturbüros weltweit war Esch bisher bekannt für seine künstlerischen Serien über westliche und asiatische Megacities. Mit geschultem Blick für Geometrien, Strukturen, Raster und von Menschen geschaffene Ordnungen beschäftigt er sich in seinem wohl ebenfalls als Serie angelegten Pompeji-Projekt erstmals mit der antiken Stadt.
Während mehrerer Aufenthalte zwischen 2022 und 2024 fotografierten Esch und sein Team die Ausgrabungsstätte zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten mit modernster Technik. Die entstandenen Bilder dokumentieren Pompeji im Jetztzustand. Sie machen das Architektonische der Ruinenstrukturen im baulichen Zusammenhang mit dem modernen Pompeji und darüber hinaus als Teil der Metropolregion Neapel überhaupt erst sichtbar. Sie zeigen die archäologische Insel als Ort des Kulturtourismus, an dem wir das lebendige Treiben der mondänen römischen Kleinstadt am Golf von Neapel im Augenblick der Naturkatastrophe vor 2.000 Jahren vergegenwärtigt finden. Und sie verorten Pompeji durch die wiederkehrenden Ansichten des Vesuvs, die Silhouette des eingestürzten Kegels und Blicke in den steil abfallenden Trichter der Caldera nach wie vor in der Gefahrenzone.
Die für den Band ausgewählten rund 160 farbigen Fotografien – darunter zahlreiche von Drohnen aufgenommene Luftbilder – faszinieren durch räumliche Tiefe ebenso wie durch ihren narrativen Charakter und eine geradezu stoffliche Präsenz der pompejanischen Mauern. Dabei stehen Tempel, Villen, Thermen, Garküchen, Ehrenbögen, Schenken, Werkstätten oder Bordelle hierarchielos nebeneinander.
Der gänzliche Verzicht auf Bildunterschriften oder eine Legende im Anhang ermöglicht ein gewissermaßen vorurteilsfreies ästhetisches Eintauchen in das Medium. Man forscht unwillkürlich nach einer inneren Logik der Bildfolge, nach aufschlussreichen Details, Landmarken und Typologien, die nähere Erkenntnisse über abgebildete Häuser, Innenräume und Gärten, deren Funktion und Bedeutung zulassen. Orientierung bieten unverwechselbare Bauformen wie das Forum mit der 2017 aufgestellten Bronzeskulptur des mythologischen Kentauren von Igor Mitorai, das Große Theater oder gelegentlich die Steintafeln an den Straßenecken, die anzeigen, in welcher der von I bis IX durchnummerierten Regionen man sich befindet.
Wer Fakten wissen möchte, kann wahlweise im Reiseführer blättern, Namen, Zahlen und Hintergründe recherchieren. Oder sich auf den Weg nach Kampanien machen, um sich vor Ort in die Besucherschlangen einzureihen und hoffentlich ein Ticket zu ergattern. In jedem Fall schüren die eindrücklichen Bilder die Sehnsucht nach der eigenen realen (Wieder-)Anschauung. Die spektakulären und menschenleeren Perspektiven Eschs sind allerdings nur im Buch zu finden. Es wundert nicht, dass der Band wenige Wochen nach Erscheinen bereits vergriffen war. Mittlerweile ist die zweite Auflage nachgedruckt und zu haben.
Text: Ulrike Alber-Vorbeck
Pompeji. Der architektonische Blick
Hans Georg Esch
Gestaltung: Anna Wesek
192 Seiten
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2024
ISBN 978-3-7533-0740-4
38 Euro
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