Das Bottle Village im kalifornischen Simi Valley ist ein Kuriosum. Es ist ein skurriles und gleichsam warmherziges, ganz persönliches Architekturprojekt, wie es wohl nur im US-amerikanischen Westens der 1950er Jahre mit seinem Individualismus, seiner Konsumkultur und seinen verlockenden Weiten emporkommen konnte.
Dabei ist dieses von einer älteren Dame ab 1956 eigenhändig errichtete Dorf aus wahnwitzigen 1.000.015 Flaschen derart außergewöhnlich, dass es auch von nationalem Wert ist: Seit 1996 ist das Bottle Village – oder das, was von ihm heute seit einem verheerenden Sturm übrig geblieben ist – im National Register of Historic Places gelistet. Zum Bestand des Bottle Village gehörte ursprünglich unter anderem das „Heim der kleinen Mütter“ mit insgesamt 550 Puppen, eine 120 Zentimeter hohe „Cabana“ aus alten Leuchtstofflampen, der Zaun eines Kaktusgartens aus den Gläsern von Injektionsspritzen oder eine Flugzeugspitze aus Plexiglas als Katzen-Gebärstation.
Die österreichische Künstlerin Kathi Hofer bringt mit ihrem Büchlein „Grandma“ Prisbey’s Bottle Village diese kleinteilig zusammengesetzte, kautzige Architektur zu einer deutschsprachigen Leserschaft. Dabei ist Hofers Buch vor allem eine Hommage an Tessa Prisbey, die hinter der Fassade einer Frau der Unterschicht, einer Mutter, Großmutter, Ehefrau eines Bauarbeiters und Trailer-Bewohnerin zur Schöpferin dieses außergewöhnlichen Projekts wurde.
Auf den 1.300 Quadratmetern Land, die Prisbey und ihr Mann in den späten 1950er Jahren im kalifornischen Simi Valley als Standort für ihren Wohnwagen ewarben, baute sie jenes kuriose Flaschendorf. Historische, teils verschwommene und teils grob reproduzierte Aufnahmen der schon damals von vielen Neugierigen besuchten Anlage geben in dem Buch nur fragmentarische Eindrücke des Bottle Villages. Das macht aber auch den Charme von Hofers Archivprojekt aus. Den Dilettantismus, das unermüdliche Zusammenklauben jeglichen Materials, die Verschrobenheit der „Grandma Prisbey“ überträgt die Herausgeberin Hofer auf die Bildauswahl.
Das Bottle Village ist jedoch nicht nur eine architektonische Anlage am Rand einer kalifornischen Stadt. Unter dem gleichen Titel verfasste Prisbey eine Art kommentierte Bestandsaufnahme ihres Dorfes. Im Buch ist das selbst angefertigte Heftchen Presbeys reproduziert und in einer Übersetzung von Hofer abgedruckt. Die einfachen und gleichsam tiefgründigen Reflektionen ihres Texts verdeutlichen: In Prisbeys Denken war alles im Fluß und hatte alles gleichermaßen Wert – ob Person, Tier, Pflanze oder Material. Aus heutiger Sicht könnte man sagen: „Grandma Presbey“ lebte die Aussteigervariante einer Circular Economy. Bestes Beispiel für ein Umdenken und Andersdenken in einem heute hinfällig werdenden System des steten Wachstums.
Text: Sophie Jung
„Grandma“ Prisbey’s Bottle Village
Kathi Hofer
120 Seiten
Englisch/Deutsch
Spector Books, Leipzig 2021
ISBN: 9783959054034
16 Euro