Der versierte, amerikanische Hauszerschneider Gordon Matta-Clark (1943–78) gehört sicher zu den beliebtesten Künstler*innen im Bereich der Architektur. Kaum eine Ausstellung zu radikalen Architekturkonzepten, die ohne seine wegweisend dekonstruierenden Arbeiten „Conical Intersect“ (1975), „Splitting“ (1974) oder „Day’s End“ (1975) auskäme.
Mal zerteilte er ein unschuldiges Haus in New Jersey in zwei Hälften; mal öffnete er illegal eine leerstehende Lagerhalle in New York zum Hudson River, um die Öffentlichkeit zur Umnutzung einzuladen; mal schnitt er mit chirurgischer Präzision kreisrunde Öffnungen in einen zum Abriss vorgesehenen Altbau in Paris, nahe der Baustelle des Centre Pompidou. Der studierte Architekt Matta-Clark war kein Baumeister, der Neues schuf, sondern ein Gebäudechirurg, der mit seiner „anarchitecture“ neue Sichtweisen auf das Bestehende öffnen konnte.
Kein einziges seiner Werke – die als Performances und Installationen grundsätzlich temporär waren – ist heute erhalten. Dafür existiert ein umfangreiches Archiv mit Dokumenten, Briefen, Postkarten, Fotografien, Zeichnungen, Projektanträgen, Büchern und Filmen. Dieses Archiv befindet sich im Canadian Center for Architecture CCA in Montreal.
Seit einigen Jahren verfolgt das CCA die Idee einer aktiven Archivarbeit. Daraus ist die „Out of the Box“-Serie entstanden, bei der Kurator*innen gezielt eingeladen werden, um sich mit zeitgenössischem Blick in die Archivalien zu stürzen und daraus neue Ausstellungen oder Bücher zu schaffen. So ist auch dieses bemerkenswerte, blitzschöne Buch mit dem etwas trockenen Titel CP138: Gordon Matta-Clark: Readings of the archive by Yann Chateigné, Hila Peleg, Kitty Scott. CP138 ist dabei schlicht das Kürzel für den hier präsentierten Archivbestand.
Das Buch selbst ist alles andere als trocken. Die drei Kurator*innen haben sich auf getrennten Wegen jeweils eigene, thematische Zugänge ins Material gebahnt und schließlich ihre Beiträge in diesem Buch und einer begleitenden Ausstellung zusammengebracht. Yann Chateigné (Brüssel, Genf) hat sich auf Matta-Clarks kleine Bibliothek von etwa 80 Büchern konzentriert. Hila Peleg aus Berlin hat sich hingegen auf all das Videomaterial gestürzt, das bei der Produktion von Matta-Clarks 20 offiziellen Filmen letztlich nicht verwendet wurde. Und Kitty Scott aus Ottawa hat sich durch hunderte von Fotos gewühlt, die Matta-Clark auf seinen zahlreichen Reisen durch die USA, Europa und Lateinamerika gemacht hat.
Offenbart das neue Perspektiven? Absolut! Chateigné destilliert aus seiner Beschäftigung mit den Büchern übergeordnete Denkstränge wie Alchemie, Netzwerke, Schwerkraft oder „innere Räume“, die sich mühelos als Breitbandreferenzpunkte in den Arbeiten Matta-Clarks wiederfinden lassen. Peleg stellt in ihrer Auswahl alternativen Materials eine Mischung aus Making Of und Cut-Out-Scenes zusammen, die frische Blicke auf die bekanntesten Arbeiten werfen. Und Scotts Wühlerei in den Fotos zeigt uns einen Künstler, der auch auf seinen Reisen an den dekonstruktiven Bruchstellen von Natur und Zivilisation interessiert war – ob bei einem erdbebenzerstörten Highway oder einem Vulkanausbruch, bei im Laub spielenden Kindern oder unfertigen Bauruinen, in Stonehenge oder auf den Ruinen der Mayas in Lateinamerika.
Das sind wunderbare Einblicke in das Archiv des Künstlers. Auch die Idee, drei verschiedene Personen separat auf Expedition zu schicken, überzeugt. Es empfiehlt sich allerdings unbedingt, die Arbeiten Matta-Clarks schon zu kennen – denn eine einsteigerfreundliche Einführung in das Gesamtwerk bietet das Buch nicht. Das hier ist Gordon Matta-Clark für Fortgeschrittene.
Text: Florian Heilmeyer
CP138 Gordon Matta-Clark: Readings of the archive by Yann Chateigné, Hila Peleg and Kitty Scott 248 Seiten Englisch CCA, Montreal / Verlag Walther König, Köln 2020 ISBN 978-3-960988-38-0 38 Euro
Das Buch ist auch in einer französischen Version erschienen.
Video:
www.publicdelivery.org
Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Leinfelde | 23.09.2021 11:19 Uhr
schluck
*gulp*. Bin ich in Sachen Matta-Clark schon Fortgeschrittene genug, um mich an dieses Buch zu wagen? Was, wenn nicht? Ich fühle Angst.
Mein Kommentar
Reisefoto Gordon Matta-Clarks von einer Reise durch Arizona und New Mexico im Jahr 1976, nach dem Selbstmord seine Zwillingsbruders
Gordon Matta-Clark, „Conical Intersect“ in Paris im Jahr 1975
Skizze und Fotocollage für das unrealisierte Projekt „Island Barges“, 1970–71
Matta-Clark auf seiner Reise nach Chile, Peru und Ecuador im Jahr 1971
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Leinfelde | 23.09.2021 11:19 Uhrschluck
*gulp*. Bin ich in Sachen Matta-Clark schon Fortgeschrittene genug, um mich an dieses Buch zu wagen? Was, wenn nicht? Ich fühle Angst.