Immer ein bisschen im Schatten der benachbarten Bankenmetropole Frankfurt, ist es nicht nur der deutschsprachige Rap, der Offenbach in den vergangenen Jahren zu größerer Aufmerksamkeit verholfen hat. Durch den deutschen Biennale-Beitrag von 2016 als
„Arrival City“ bekannt geworden, lassen sich in der Industriestadt am Main Bauten einer außergewöhnlichen und bisweilen exzentrischen Nachkriegsmoderne entdecken. Neben der Kirche St. Konrad aus den 1950er-Jahren und dem brutalistischen Rathaus zählt auch das Gothaer-Haus nach Plänen von
Müller und Opitz Architekten dazu. Hinter den verspiegelten Fassaden verbergen sich Geschäfte, Büros, Wohnungen, Parkflächen und ein Schwimmbad. 45 Jahre nach der Fertigstellung des Hauses hat die Gruppe
ANA Architektur Narration Aktion mit dem Band
Offenbach Kaleidoskop eine Auseinandersetzung mit dem Hochhaus veröffentlicht, die vor allem von den sozialen Beziehungen handelt, die durch das Gebäude bestimmt werden.
Neben den Dokumenten aus der Entstehungszeit des Turmbaus, der aus mindestens zwei oder drei ineinander verschachtelten Volumen zu bestehen scheint, zeigen die Fotos von
Tobias Fink den gegenwärtigen Zustand des Gothaer-Hauses. Statt jedoch dem grotesken Reiz des Hochhauses zu erliegen, hat sich der Fotograf immer wieder die großflächigen Verglasungen wie auch die reflektierende Gebäudehülle zunutze gemacht, um den Turm inmitten seiner heterogenen städtischen Umgebung zu zeigen. Mit ebendieser Herangehensweise aber, das Bauwerk nicht allein isoliert als Objekt zu präsentieren, korrespondieren auch die elf Interviews, die den größten Teil des Buches ausmachen.
So kommt an erster Stelle – noch vor dem Architekten
Peter Opitz – mit
Bernhard Fischer ein langjähriger Bewohner des Gebäudes zu Wort. Ebenso äußern sich Gewerbetreibende wie
Regina Mika, die im Gothaer-Haus ein Wasserbettengeschäft betreibt und in einem Interview ihre Erfahrungen mit dem Gebäude schildert. Dass diese Gespräche sich gleichwohl mit Interviews abwechseln, die das Autor*innenkollektiv mit Expert*innen wie der Architektin
Silke Langenberg und der Kulturwissenschaftlerin
Susanne Hauser geführt haben, entspricht dem Ansatz, das reflektierende Hochhaus aus den verschiedensten Blickwinkeln zu bespiegeln.
In der Überzeugung, dass für „das Denken in komplexen Beziehungen, das Aushandeln unterschiedlicher Interessen, den Umgang mit komplizierten Abhängigkeiten“ in der Architektur oftmals noch das Bewusstsein fehle, wollen die Verfasser*innen mit ihrer Publikation ein Antidot bieten. Zugleich verstehen sie die Veröffentlichung als Plädoyer für eine Vieldeutigkeit, die „einer noch immer dominanten Sichtweise dessen, was als ‚gute Architektur‘ betrachtet wird“, zuwiderlaufe. Dabei bedingt die gewählte Beschränkung auf Fotografien und Interviews, denen nur eine knappe Einführung vorangeht, dass die diesbezüglichen Debatten, teils älter als das Hochhaus selbst, nur am Rande Erwähnung finden – etwa, indem Susanne Hauser auf die Untersuchungen
Kevin Lynchs verweist.
Zugleich belegt die Veröffentlichung, dass viele Architekt*innen einer in den vergangenen Jahren weitverbreiteten Fetischisierung architektonischer Objekte, die in der Popularität isometrischer Darstellungen ihren Ausdruck fand, müde sind. Gut vorstellbar, dass dem Buch, das dem Zusammenhang zwischen baulicher Form und sozialem Gebrauch nachspürt, noch weitere Bände folgen, die jenseits der bildhaften Reize nach dem Leben in und mit den eigen- und einzigarten Bauten der Spätmoderne fragen.
Text: Achim Reese
Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses
ANA Architektur Narration Aktion
Gestaltung: Marion Kliesch und Sam Tyson192 Seiten
Spector Books, Leipzig 2022
ISBN 978-3959056274
28 Euro