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https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Gerhard_Vinken_ueber_Big_Beautiful_Buildings_und_das_Europaeische_Kulturerbejahr_5372353.html

11.04.2018

Kulturelles Erbe ohne Architektur?

Gerhard Vinken über Big Beautiful Buildings und das Europäische Kulturerbejahr


Mehr als 40 Jahre nach dem erfolgreichen Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 mit seinem Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ hat die EU für 2018 erneut ein Europäisches Kulturerbejahr ausgerufen: das European Cultural Heritage Year, kurz ECHY 2018. Die erste Ausgabe war damals ein großer Erfolg – nicht zuletzt, weil sie von einer breiten Bürgerbewegung getragen wurde, die auf problematische Entwicklungen Einfluss nehmen wollte. Heute biete das ECHY hingegen ein „Gute-Laune-Kultur-Programm“, in dem Architektur kaum mehr vorkommt, so der Denkmalpfleger Gerhard Vinken von der Uni Bamberg. Vinken ist am Projekt „Big Beautiful Buildings – Als die Zukunft gebaut wurde“ der Stadtbaukultur NRW in Kooperation mit der TU Dortmund beteiligt. Im Interview plädiert er dafür, die Konflikte um das Kulturerbe im Sinne der Europäischen Idee bewusst zu adressieren. Zu diesem Erbe gehören für ihn nicht zuletzt die Großbauten der Nachkriegszeit, die selbst einst als Stadtzerstörer wahrgenommen wurden.

Von Luise Rellensmann


Herr Vinken, Sie sind mit ihrem Lehrstuhl Kooperationspartner bei einem der wenigen ECHY-Projekte mit konkretem Architektur- und Stadtbezug: „Big Beautiful Buildings“ von Stadtbaukultur NRW. Was reizt Sie an dem Projekt?
Die Bauwerke der Nachkriegszeit sind eine Gattung, mit der sich die Denkmalpflege schwertut. Die Großstrukturen sind spannend, weil es gerade diese Objekte sind, gegen die sich die Denkmalpflege in den 1970ern positioniert hat. Jetzt stehen sie selbst an der Schwelle, dass man ihnen einen Denkmalwert zuschreibt. Unabhängig von der Denkmalpflege lösen sie oft eine starke Emotion aus – positiv oder negativ. Die Rezeption von modernen Großbauten ist viel komplexer, als man das oft von den Befürwortern „historischer“ Stadtviertel wie in Frankfurt oder Potsdam hört, die behaupten, das sei alles ganz hässlich. Gerade junge Leute haben eine andere Wahrnehmung davon. Die Frage ist, was wir formal unter Denkmalschutz stellen müssen; wichtiger erscheint mir vor allem, welche Art gesellschaftlicher Dialog sich darüber führen lässt.

Mein Lehrstuhl in Bamberg beteiligt sich als Kooperationspartner an der Summerschool Big Beautiful Buildings. In Bayern sind die Nachkriegsbauten eine eher unterschätzte Denkmalgruppe, in die Presse schaffen es etwa in Nürnberg meist nur die Altstadtfreunde mit ihren Rekonstruktionsvorhaben, die moderne Architektur ist ihnen ganz klar der Feind. In Sachen öffentliche Akzeptanz ist hier noch mehr zu tun als in Nordrhein-Westfalen.

Die Initiative nennt die Nachkriegsbauten der Wirtschaftswunderzeit „big“ und „beautiful“. Muss Kulturerbe schön sein? Ich finde das eine gelungene Provokation. Es ist auch eine Geschmacksfrage: Junge Leute lassen sich zum Beispiel ganz leicht für brutalistische Architektur begeistern. Bei den Nachkriegsbauten spielt es aber auch eine wichtige Rolle, in welchem Zustand sie sind. Wenn die Freiflächen der Umgebung verwildern, Scheiben beschlagen und alles vor sich hin bröckelt, haben wir schnell ein Akzeptanzproblem. So können regelrechte Räume der Angst entstehen. Die Nachkriegsmoderne entwickelt keine schöne Patina, sondern wirkt schnell vergammelt oder bedrohlich. Das kürzlich sanierte Corbusier-Haus im Berliner Westend ist ein hochkarätiges Beispiel dafür, wie stark sich der Erhaltungszustand auf die Wirkung von modernen Gebäuden auswirkt. Ich habe es im Abstand von 20 Jahren besucht und bin überzeugt, die Probleme der Akzeptanz für die Bauwerke der Nachkriegszeit gäbe es nicht, wenn sie besser gepflegt wären. Die Bebauung rund um das Kottbusser Tor in Berlin zum Beispiel, die hat zweifellos ihre Qualitäten, aber in ihrem jetzigen Zustand ist das nur schwer zu vermitteln.

Was unterscheidet das ECHY 2018 vom Europäischen Denkmalschutzjahr 1975? Das Publikum: Damals war das Europäische Denkmalschutzjahr ein gesellschaftliches Thema, eine Bürgerbewegung wie später die Ökologie nach dem Anti-AKW-Protest, es ging nicht nur um Denkmalpflege, sondern um Architektur und Stadtplanung. Getrieben von der Sorge, dass die Stadt durch die technizistische Planung vor die Hunde geht, engagierte sich eine breite Öffentlichkeit – von Hausbesetzern bis in bürgerliche Kreise –, die sich für die Stadt als Lebensraum interessierte.

Wer interessiert sich denn 2018 für das Denkmalschutzjahr ECHY?
Anders als 1975 ist das nicht die breite Öffentlichkeit. Die Aktivitäten des ECHY 2018 sind eine Sache der organisierten Denkmalpflege, und dieses Feld ist sehr breit geworden. Es sind viele große und kleine Initiativen aktiv, und das zeigt ja auch den Erfolg der Denkmalpflege: Sie ist heute durchaus einflussreich, aber es ist nicht wirkliche eine gesellschaftliche Öffentlichkeit, die hier spricht, sondern es sind eher die einschlägigen Fachleute.

Was verstehen Sie unter dem Begriff „Sharing Heritage“?
Sharing ist im Deutschen nicht so leicht zu übersetzen, es kann gemeinsames oder auch geteiltes Erbe bedeuten. Ich finde das ein ziemlich gutes Motto, denn es beinhaltet, dass es nicht zuerst um die Objekte geht, sondern um Sinnstiftungsprozesse und das Zuschreiben von Bedeutungen, um „Erben“ als soziale Praxis. Im Zusammenhang mit dem ECHY wird der Begriff allerdings oft so aufgefasst, dass es ein gemeinsames Erbe gäbe. Allgemeinplätze über das „Gemeinschaftliche und Verbindende Europäischer Kultur“ sind für eine produktive Arbeit am Erbe eher hinderlich als hilfreich.

Sie kritisieren, dass Institutionen wie die UNESCO in ihrer Praxis – wie der Bewertung und Interpretation von Welterbestätte – diese unterschiedlichen Perspektiven oftmals negieren. Inwieweit beteiligt sich eigentlich die amtliche Denkmalpflege an der Idee von „Sharing"?
Die amtliche Denkmalpflege hat da vermutlich eine Chance vergeben. Wir haben eine leistungsfähige Denkmalpflege, aber es hat sich in Deutschland mit der Institutionalisierung ein praktikables top-down-System durchgesetzt. 1975 waren die Denkmalpfleger „die Guten“, sie kämpften auf Seiten der Bürger gegen die „schlechte“ Bauindustrie. Heute ist die Denkmalpflege selbst Teil des Systems geworden und wird oft als bürokratische Instanz wahrgenommen, was aber vielen Kollegen durchaus bewusst ist. Der Dialog zwischen amtlicher Denkmalpflege und Gesellschaft müsste wieder intensiviert werden. Um wirklich zu „teilen“, müsste die Denkmalpflege einen Teil ihrer Macht um die Deutungshoheit von Denkmalen abgeben.

Sehen Sie das Potential des Mottos eingelöst, wenn Sie sich das bisherige Programm anschauen? Ich sehe das Potential des Mottos „Sharing Heritage“ im Programm nicht wirklich abgebildet. Das Programm ist ein Sammelsurium und Gemischtwarenladen ohne klaren Bezug zum vorgegebenen Thema. Ich finde es schade, dass das Motto so unverbindlich aufgefasst und mit einer so harmonisierenden Rhetorik kommuniziert wird: Irgendwie teilen wir alle irgendetwas. Aber das Gemeinsame in Europa ist das Ergebnis von Konflikten, die noch nicht zu Ende ausgefochten sind. Das Teilen ist immer eine Aushandlungssache, die mit Konflikten verbunden ist. In Deutschland wie in Europa wird angesichts von Migration eine Diskussion über die schwierigen Begriffe „Heimat“ und „Leitkultur“ geführt, und in vielen europäischen Ländern findet gerade eine Re-Nationalisierung von Erbe statt. Vor diesem Hintergrund finde ich es schade, wenn so getan wird, als sei Denkmalpflege eine Art „Gute-Laune-Kultur-Programm“.

Thema und Programm des ECHY hätten konzeptionell enger gefasst werden müssen. Was ist Europa und europäisches Erbe? Wie können wir Konflikte aushalten und dabei friedlich zusammenleben, obwohl wir so unterschiedlich auf das gemeinsame Erbe schauen? Diese Fragen werden mit den Projekten gar nicht angegangen. Die Herausforderung für ein geteiltes europäisches Erbe liegt nicht darin, Europa als einheitlichen Erberaum („europäische Werte“) aufzufassen, sondern als eine vielfältige und höchst konfliktträchtige Ansammlung divergierender Heritage-Communities.

Gerhard Vinken leitet den Lehrstuhl für Denkmalpflege/Heritage Science der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und ist Vorsitzender des Arbeitskreises Theorie und Lehre der Denkmalpflege e.V.


Zum Thema:

Heute Abend lädt die Initiative „Big Beautiful Buildings“ zum Auftakt ins Gelsenkirchener Theater im Revier (1956), einen der bedeutendsten Theaterbauten der Nachkriegszeit des Architekten Werner Ruhnau (1922-2015).



www.bigbeautifulbuildings.de
www.sharingheritage.de


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Gerhard Vinken, Foto: privat

Gerhard Vinken, Foto: privat

Big Beautiful Buildings mit Marl im Hintergrund, Foto: Tania Reinicke

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Das Rathaus in Marl von Van den Broek en Bakema, Foto: Tania Reinicke

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