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25.11.2015

Besuch im Fun Palace der Mathematik

Georg Kohlmaiers Ökomoderne in Berlin


Das Mathematikgebäude der TU Berlin steht zwar prominent an der Straße des 17. Juni, aber was es mit seiner filigranen Architektur auf sich hat, ist praktisch unbekannt. Seine Architekten Georg Kohlmaier und Barna von Sartory schufen 1981 den frühen Höhepunkt einer leichten Ökomoderne, wie sie bis heute von Thomas Herzog oder Lacaton & Vassal praktiziert wird. Zwischen Hightech-Begeisterung und intelligenter Klimaplanung war zudem Zeit für eine verspielte Gestaltung, die das Haus zum Gesamtkunstwerk macht. Nun droht ihm die Zerstörung.

Von Luise Rellensmann mit Stephan Becker

1968, als der erste Mensch den Mond betrat und Archigram mit einem ungebrochenen Technologieoptimismus ihre Plug-In City entwickelte, gewannen Georg Kohlmaier und Barna von Sartory (1927–2000) den Wettbewerb für das Mathematikgebäude. Bis dato hatten die Anfang 30-jährigen Architekten gerade mal ein Jahr lang zusammengearbeitet und mit wissenschaftlich durchgearbeiteten Architekturvisionen auf sich aufmerksam gemacht. Ihre Collagen von damals zeigen bunte quadratische Kapseln, die als „WC-Rucksäcke“ vor Altbaufassaden hängen und auf diese Weise deren drohenden Abriss stoppen sollten. Oder ein Röhrensystem aus rollenden Gehsteigen, das die Stadt vernetzen und eine Alternative zum Individualverkehr bieten sollte.

Auch ihre Idee für den Neubau des Mathematik-Instituts war Teil eines Vernetzungsgedankens: Sie entsprang ihrem Entwurf für den Wettbewerb für die strukturelle Gesamtplanung der Technischen Universität. Prämiert wurden sie damals mit dem zweiten Preis und erhielten den Auftrag für den Bau des Mathematikgebäudes – auch die anderen prämierten Büros wurden je mit der Realisierung eines TU-Gebäudes beauftragt. Eine Broschüre, in der die Architekten ihren Beitrag dokumentieren, zeigt schöne Isometrien und das Modell einer flexiblen, aus Legosteinen gebauten Struktur gitterförmig aufgestellter Raumzellen, die sämtliche bestehenden Gebäude des Geländes überlagert und in sich aufnimmt.

Dass damals ein solcher kühner Beitrag hochrangig ausgezeichnet wurde, erklärt Kohlmaier beim Gang durch das Gebäude mit der Studentenbewegung. „Ohne die Studenten hätten wir nicht gewonnen. Es gab ein Go-In, bei dem sie das Preisgericht mit ihrer Forderung nach einer modernen und zukunftsweisenden Universität konfrontierten.” Trotzdem ist das Haus das Produkt eines Kampfes. Die konkreten Planungen begannen 1973, zeitgleich mit der Energiekrise. „Das Fenster wurde damals verteufelt. Ich sollte umplannen, man wollte kleine Fenster und große Mauermassen“, erinnert sich der Architekt, dem es trotzdem gelang, eine geringe Brüstungshöhe von nur 50 Zentimetern und seine gerade mal fünf Zentimeter breiten Sprossen aus dem Gewächshausbau zu realisieren.

Auch wenn Georg Kohlmaier und Barna von Sartory die Gesamtplanungen für den Campus der TU Berlin nicht ausführen konnten, verkörpert das Mathematikgebäude den Gedanken ihres Wettbewerbsbeitrags: Ein Brückensystem verknüpft den auf H-förmigem Grundriss geschossweise zurückgestaffelten Hochhausblock mit dem Fachbereich Elektrotechnik im Nachbargebäude, gleichzeitig integriert er wie selbstverständlich ein einsames Hörsaalgebäude aus der Nachkriegszeit, entworfen von Architekturprofessor Karl Wilhelm Ochs (1896–1988).

Freistehende Treppen, die in Feuerwehrrot in das große Foyer hinein kragen, technische Einbauten in Kanalrohrblau, selbst entworfene Lampen für die Kantine und die Bibliothek – bis hin zur Kunst an den Wänden und der auf Millimeterpapier gedruckten Fluchtweg- und Flurbeschilderung haben der Österreicher Kohlmaier und der Ungar von Sartory ihr erstes realisiertes Bauwerk durchgeplant. Das Institutsgebäude ist Pop, es ist ein Fun Palace der Mathematik.

Konzipiert ist das Mathematikgebäude als „Sonnenfalle“ mit maximiertem Lichteinfall nach dem Prinzip des Gewächshauses, bei dem das Tageslicht als kostenlose Quelle genutzt werden und Heizquellen je nach Bedarf hinzugeschaltet werden können. Für die außerordentlich transparenten Fassaden kam zum ersten Mal bei einem Bürobau Dreifachverglasung zu Einsatz. Ein mit Sonnenwächtern versehener Lichtschutz reagiert sensibel auf die Sonneneinstrahlung.

Die Innenwände sind im Gegensatz zu den meisten Gebäuden auf dem Campus nicht aus Gipskarton oder leichten Metallpaneelen gebaut worden, sondern aus schweren offenporigen Bredero-Betonsteinen, die wie die weitgespannten Rippendecken Wärme und Feuchtigkeit speichern können. Auf aufgeständerte Böden wurde ebenso verzichtet wie auf abgehängte Decken, um die Speicherkapazität der Konstruktion nicht zu beeinträchtigen. Das Konzept ermöglichte einen weitgehenden Verzicht auf eine Klimaanlage sowie eine natürliche Belüftung der Büroräume und Arbeitsplätze über die Fenster. Der Haken: Zumindest im Hochsommer ging es nicht ohne Nachtauskühlung. Und das hätte bedeutet, jedes Fenster einzeln von Hand zu öffnen. Undenkbar im universitären Alltag, was bedeutete, dass es im Hochsommer schon mal etwas wärmer wurde.

Als Neuinterpretation des Bürohauses war der Entwurf richtungweisend, die Architekten schufen hier einen Hybrid aus Glashaus, Fabrik und Wolkenkratzer. Jeder einzelnen Typologie hatten sie sich zuvor ausführlich forscherisch gewidmet. Ihre Studien zum filigranen Bauen aus Glas-Eisenkonstruktionen in der Nachfolge Joseph Paxtons veröffentlichten sie in dem Standardwerk „Das Glashaus. Ein Bautypus des 19. Jahrhunderts“.

Kohlmaier ist überzeugt: „Der Mensch ist empfindlich wie eine Pflanze”, – die einzigen fensterlosen und deshalb klimatisierten Räume in der Mathematik sind die Hörsäle. Während sein Gebäude eine Rückbesinnung auf die Natur darstellt, sieht er in der aktuellen Entwicklung des Bürohausbaus einen zunehmende Naturentfremdung. „Den Menschen wird durch die Klimatisierung heute eine künstliche Lunge verpasst.“ Als Beispiel nennt er die Planungen von BIG mit Thomas Heatherwick für das neue Google-Hauptquartier in Kalifornien. Der von den Architekten als „Gewächshäuser in der Wildnis“ beschriebene Entwurf sei eine zum Schein mit der Natur verbundene Kunstlandschaft, eine vollklimatisierte Hülle ohne natürliche Atmung werde dort in die Natur eingebettet.

Warum müssen wir klimatisierte Büroräume haben, die uns von der Natur abschirmen und entfremden? Was heute im Bürohausbau passiert, definiert Kohlmaier als eine kritiklose Übernahme amerikanischer Prinzipien: geschlossene Fenster, unendlich tiefe Räume und doppelte Böden und Decken aus Gipskarton.

Gleichzeitig erkennt er die Schwachstelle seines eigenen ambitionierten Projekts: „Wir haben immer damit gerechnet, dass sich die Nutzer mit dem Gebäude identifizieren und entsprechend damit umgehen. So ein Haus ist ja auch wie eine Maschine mit Betriebsanleitung.“ Im Fall des Mathematikgebäudes wollte wohl niemand diese Betriebsanleitung lesen – Professoren bestanden darauf, den Sonnenschutz selbst regeln zu können, durch mangelnde Wartung flattern die nicht eingezogenen Lamellen heute im Wind. Von Beginn an ist das Gebäude ans Fernwärmenetz angeschlossen, in manchen Fluren sind die offenporigen Steinmauern mit Wandfarbe bestrichen worden. Energie wurde hier nie gespart. Und Kohlmaier konnte so nie erfahren, ob sein Energiekonzept wirklich aufgeht.

Bis auf den Sonnenschutz ist das Bauwerk 2015 – mehr als 30 Jahre nach Fertigstellung – in einem weitgehend gepflegten Zustand, doch die Lebensdauer einiger Baustoffe ist nun mal beschränkt. Die Gummiprofile der Fassade zerbröseln. Laut Kohlmaier hat die Verwaltung die Renovierungskosten auf rund 35 Millionen Euro hochgerechnet, was in etwa den Entstehungskosten des 70 Millionen DM teuren Gebäudes entspricht. Das klingt nach Totalsanierung, nach einem Rückbau bis auf die Grundstruktur, die vom ursprünglichen Konzept und seiner stringenten gestalterischen Umsetzung nicht viel übrig lassen würde. Kohlmaier plädiert dagegen für einen differenzierteren Ansatz: Würde man zunächst nur die Fassade erneuern, käme man bei 10 bis 15 Millionen auf die Hälfte der Kosten. Und der grundsätzlich gute Zustand der Innenräume lassen eine behutsamere Erneuerung durchaus als Möglichkeit erscheinen. Sogar Pläne habe er schon angefertigt, doch die Verwaltung findet es lästig, wie engagiert er für das Gebäude ist: „Man spricht dort eher von Abriss als von Renovierung. Das ist wie ein Dolchstoß für einen Architekten.“

Die Ironie der Geschichte ist allerdings, dass sich ihr klimatisches Konzept gerade in gemäßigteren Regionen Nordeuropas längst zum Standard entwickelt hat. Die Nachtauskühlung eines Gebäudes ist dank ausgeklügelter Haustechnik längst kein Problem mehr – statt Nutzerhand öffnen heute zahllose Servomotoren Fenster und Türen. Das ist die planerische Herausforderung des Mathematikgebäudes: In einer Zeit, in der klimagerechtes Bauen sowie die Idee des Gewächshauses in der Architektur aktueller denn je sind, wäre es da nicht möglich, das clevere Klimakonzept nachträglich zum Funktionieren zu bringen? Mit den Mitteln der Gegenwart könnte so dem technisch-ökologischen Pioniergeist dieses Gebäudes endlich Geltung verschafft werden.

Bei einer originalgetreuen Sanierung könnte dann auch ein stundenweise sprudelnder Brunnen im hinteren Foyerbereich an der Rückseite des Trafos wieder aktiviert werden. Georg Kohlmaier erinnert sich lebhaft an die Eröffnung seines Gebäudes, als Studenten eine Packung Waschpulver dort hineinkippten. „Der ganze Raum war voller Schaum!“ doch dem Schaumpartypotential des Mathegebäudes wurde ein schnelles Ende bereitet – rund einen Monat später wurde der Brunnen mit Holz verkleidet.

Schaum und Technik – das wäre ein schönes Motto für ein Projekt, das endlich die schlummernden Potentiale des Mathematikgebäudes entdeckt. Was im Übrigen der TU Berlin mit ihrer großen Architekturfakultät auch durchaus gut zu Gesicht stehen würde.


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