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12.06.2014

Tati, Prouvé und Plattenbau

Frankreichs kritischer Blick auf die Moderne


Gleich an der Tür grüßt Monsieur Hulot. Auch Frankreich ist dem von Rem Koolhaas für die Länderbeiträge vorgegebenen Motto Absorbing Modernity 1914-2014 gefolgt. Doch anstatt sich den Betonbauten der Nachkriegszeit mit wahlweise dokumentarischer Neutralität oder fetischhafter Bewunderung anzunähern, entschied sich Kurator Jean-Louis Cohen für eine differenziertere Betrachtung.

Den Auftakt der Schau Moderne: Versprechen und Bedrohung? bildet ein Modell der Villa Arpel aus Jacques Tatis Film-Klassiker Mon Oncle (1958). Das Gebäude ist mehr als eine architektonische Kulisse. Durch die beständigen Fehlfunktionen der automatischen Türen, Tore und Anlagen wird der Bau schließlich selbst zum Protagonisten und erlangt die Kontrolle über das Leben seiner Bewohner. Neben einem 1:10-Modell der Villa sind auch zahlreiche Zeichnungen zu sehen, die der Maler und enge Tati-Freund Jacques Lagrange für die Ausstattung des Films angefertigt hatte. „Auch nach mehr als 50 Jahren symbolisiert die Villa Arpel den Traum von einem Leben, das durch die Technik vereinfacht wird. Doch manchmal verdreht sich dieser Traum in eine Farce“, erklärt Jean-Louis Cohen weiter.

Der übrige Teil der Ausstellung führt aus der Fiktion in die Realität des industriellen Bauens. Auf der einen Seite stehen die mobilen Architekturen Jean Prouvés, deren konstruktive Leichtigkeit und Raffinesse anhand von acht Wandpaneelen vor Augen geführt werden. Die böse Seite des Bauens beginnt nur wenige Schritte weiter: Bereits in den dreißiger Jahren hatte der Ingenieur Raymond Camus ein Plattenbau-System aus schweren Betonbauteilen konzipiert, von dem zwei originale Elemente in einem weiteren Ausstellungsraum von der Decke hängen, als befänden sie sich geradewegs auf dem Weg zur Baustelle.

Wozu die Module gebraucht wurden, zeigt ein Modell des 1934 errichteten Wohnviertels Cité de la Muette im Pariser Vorort Drancy. Die 14-geschossigen Türme basierten auf einem Skelett aus Stahlbeton, das mit vorfabrizierten Paneelen verkleidet wurde, und galten als die ersten Hochhäuser von Paris. Zu ihrer eigentlichen Bestimmung kamen die Bauten jedoch erst deutlich später. Richtete zuerst die örtliche Polizei in ihnen Baracken ein, nutzten die Nazis die Wohnbauten 1940 als Auffanglager für die Pariser Juden, bevor diese in Konzentrationslager abtransportiert wurden. Trotz dieser Schicksalsschläge diente das Viertel in den Nachkriegsjahren als Blaupause für mehr als 300 weitere Wohnsiedlungen in ganz Frankreich – mit den bekannten, dramatischen Folgen.

Wie ein roter Faden hält ein Film von Teri Wehn Damish die einzelnen Beiträge zusammen, der in allen vier Ausstellungsräumen synchron abgespielt wird. Fiktive Momente wie Szenen aus Mon Oncle und Jean-Luc Godards Drama 2 ou 3 choses que je sais d‘elle (wo das Modell einer Plattenbausiedlung aus Waschmittelverpackungen nachgebaut wird) treffen hier auf die gebaute Wirklichkeit. In Interviews mit den Bewohnern wird deutlich, was sie von ihrem Viertel halten. „Es ist so hässlich, dass ich mich daran einfach nicht gewöhnen kann“, sagt etwa eine junge Frau in die Kamera. Andere finden die Größe ihrer Wohnungen beeindruckend, erschaudern jedoch angesichts des Ausblicks aus ihren Fenstern.

Die Stärke des französischen Pavillons liegt genau an dieser Stelle: Es ist die einzige Inszenierung auf dieser Biennale, die die Architektur im Kontext ihrer Nutzer präsentiert und diese auch zu Wort kommen lässt – unabhängig davon, ob es sich um ein Hochhausviertel vor den Toren von Paris handelt oder um die großbürgerliche Villa Arpel aus Mon Oncle. Jean-Louis Cohen ist damit der Balanceakt gelungen, Anspruch und Wirklichkeit der Moderne gleichermaßen lebendig einzufangen. Von dieser Erdung architektonischer Höhenflüge hatte man gerne mehr gesehen.

(Norman Kietzmann)


Am 7. Juni eröffnet, läuft die 14. Architekturbiennale in Venedig noch bis zum 23. November 2014. BauNetz ist Medienpartner des deutschen Beitrags. Unsere Berichterstattung zur Biennale 2014 wird unterstützt von GROHE.

Alle Artikel zur
Architekturbiennale: www.baunetz.de/biennale


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