Rotterdam ist dafür bekannt, sich immer wieder neu zu erfinden. Nach den großen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs folgte ein Wiederaufbau nach zeitgemäßen städtebaulichen Maßstäben. Seitdem hat die Stadtentwicklung rasant an Fahrt aufgenommen, so steht Rotterdam beispielhaft für innovative Architektur, bauliche Unkonventionalität und steten Wandel. Zunehmend prägt auch die spektakuläre Geste das Stadtbild, beispielsweise in der ikonischen Form der Türme von OMAs De Rotterdam, in der großdimensionierten Markthalle von MVRDV oder in deren verspiegeltem Schaulager für das Museum Boijmans Van Beuningen. Hinzu kommen marketingtaugliche Umnutzungen und die auch aus anderen Metropolen bekannten kulturellen Aufwertungsprozesse.
Unter der Fragestellung, wie sich über solch permanente Umgestaltung in fotografischen Momentaufnahmen erzählen lässt, ohne dabei ein vordergründiges Stadtimage zu reproduzieren, hat sich die in Berlin lebende Künstlerin Annette Kisling mit Rotterdams Zentrum beschäftigt. Während eines ersten, einjährigen Aufenthalts 2003 war sie begeistert von der eigenwilligen Direktheit der Stadt, ihrem rauen Charme und heterogenem Charakter. Sie fotografierte zahlreiche Gebäude, damals noch analog und in Schwarz-Weiß. 2017 kehrte sie zurück, um die fotografische Arbeit fortzusetzen – und findet einen stark veränderten Stadtraum vor: verdichteter, aufgeräumter, exklusiver.
In den folgenden Jahren sucht Kisling sowohl markante Neubauten als auch bestimmte Häuser auf, die sie 2003 schon einmal fotografiert hatte und erkundet deren unmittelbare Umgebung mit ihrer Kamera. Die dabei entstandenen Farbfotoserien vergegenwärtigen nicht nur verschiedene Zeiträume – mal liegen zwischen zwei Bildern Jahre, mal nur Momente –, sondern lenken die Aufmerksamkeit auf die unvermeidlichen Leerstellen, die sich zwischen diesen fragmentarischen Beobachtungen öffnen: „Meine Bilder berichten vom Umbau der Stadt Rotterdam, der sich ihnen fortwährend entzieht“, so die Fotografin.
Nun hat sie das Langzeitprojekt als E-Book im Berliner Verlag Eeclectic veröffentlicht, dessen Schwerpunkt auf digitalen Publikationen im Bereich visueller Kultur liegt. Das E-Book mag als Format für ein Fotobuch (noch) etwas ungewöhnlich anmuten, wurde jedoch von der Künstlerin ganz bewusst gewählt. Dies tat sie nicht allein aufgrund der Komplexität des Projekts und produktionstechnischer Vorteile, sondern vor allem auch wegen seines Potenzials, was Verbreitung, Vermittlung und Interaktion betrifft. Die Verlegerin und Gestalterin Janine Sack hat in enger Zusammenarbeit mit Annette Kisling ein Design entwickelt, das mit weißem Rand das klassische Fotobuch zitiert, aber freier mit dieser Form spielen kann.
Verplaatst, der niederländische Titel des Buches, der sich mehrdeutig mit „verschoben, verlegt, verlagert, versetzt, umgestellt, umgeräumt“ übersetzen lässt, verweist auf die teils subtilen, teils recht aggressiven Verwerfungen und Überlagerungen im räumlichen Gefüge der Rotterdamer Innenstadt. Diese werden in 21 Kapiteln thematisiert. Dabei steht in jeder Bildserie jeweils ein konkreter und über den Titel lokalisierbarer Ort im Fokus. Indem sie an ihren eigentlichen Motiven stets auch vorbeifotografiert und den Blick auf scheinbar nebensächliche Details richtet, schafft Annette Kisling Bilder, die genauso dicht und vielschichtig sind wie der städtische Raum, über den sie erzählen.
Die Überlagerung von architektonischen Ideen der Nachkriegsmoderne mit zeitgenössischem neoliberalem Stadtmarketing wird beispielsweise in der Serie „Blakeburg“ deutlich: Das eigentlich sehr präsente brutalistische Bürogebäude, dem der Abriss droht, tritt gegenüber neuer, generisch wirkender Nachbarbebauung immer mehr in den Hintergrund und ist im letzten Bild nur noch als Fata Morgana-artige Spiegelung präsent. Andere Serien zeigen, wie der öffentliche Raum grüner wird – und inszenierter. Was bedeuten diese Entwicklungen für die Diversität Rotterdams? Welche und wessen Bedürfnisse werden durch die aktuelle Stadtentwicklung bedient? Wann kippen Verdichtung und Aufwertung in ein Auswechseln und Verdrängen?
Verplaatst wird im Studio des Verlags Eeclectic, Lindenstr. 91, 10969 Berlin am Samstag, 24. Juni 2023 von 17 bis 19 Uhr in einem Doublefeature zusammen mit der gerade erschienenen Monografie Cold Lens as a Filter der Fotografin Jana Müller vorgestellt.
Text: Diana Artus
Verplaatst. Eine fotografische Beobachtung zur städtebaulichen Veränderung Rotterdams
Annette Kisling
Deutsch / Englisch
216 Seiten, 174 Fotografien
fixed epub (250 MB)
EECLECTIC, Berlin 2023
ISBN 978-3-947295-76-0
14,99 Euro