Vor 25 Jahren scheiterte der Versuch, Berlin und Brandenburg zu einem Bundesland zu vereinigen. Die Berliner*innen votierten in einer Volksabstimmung zwar für die Länderfusion, die Brandenburger*innen jedoch dagegen. Vermutlich war das Unbehagen der Bevölkerung im dünn besiedelten Flächenland gegenüber der hoch verschuldeten Metropole in ihrem Zentrum einfach zu groß.
Für den Erscheinungstermin des neuen Fotobuches Berlin von Andreas Gehrke dürfte das Jubiläum des verwaltungspolitischen Reformversuchs wohl keine Rolle gespielt haben. Doch die Wechselbeziehungen und Differenzen, die sich im Scheitern der Länderfusion niederschlagen, spielen auch für Gehrke eine Rolle, wenn er betont, dass Berlin nicht ohne sein ganz ähnlich konzipiertes, 2017 erschienenes und leider vergriffenes Fotobuch Brandenburg denkbar ist. So wie die beiden Bundesländer eng miteinander verbunden und doch ganz unterschiedlich sind, so hängen auch die zwei Fotobücher eng zusammen. Grauer Leineneinband, 192 beziehungsweise 160 Seiten, eine klar choreographierte Abfolge schwarz-weißer und farbig zurückhaltender Aufnahmen, alle sehr präzise komponiert, mit blassem Himmel, gespenstisch ruhig und gnadenlos menschenleer.
Ist es Zufall, dass Gehrke sich zuerst Brandenburg angenommen hat? Trotz des aktuellen Hypes um das neue Leben auf dem Land ist das preußisch-karge Brandenburg den meisten Hauptstadtbewohner*innen in seiner bisweilen tristen Nüchternheit und seinem ungelenken Charme weiterhin fremd. Gehrke zeigt in Brandenburg Landschaftsaufnahmen und anonyme Architekturen. Weniger die genaue Verortung und das Besondere interessieren ihn, sondern das Generische und Nebensächliche, das durch die fotografische Inszenierung zum Erzählen gebracht wird.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Situation in Berlin natürlich ganz anders ist. Nicht nur Bewohner*innen und Kenner*innen der Stadt können viele Motive sofort identifizieren. Die unterkühlten, geradezu erstarrten und auf das Wesentliche fokussierten Blicke laden dazu ein, über die Veränderungen und Beständigkeiten nachzudenken, die aus Architektur und Stadtraum herausgelesen werden können. Sie decken die viel zitierten, historisch bedingten Brüche und Fehler der Stadt auf, denen sich der Essay von Florian Heilmeyer am Ende des Buches unter anderem widmet.
Gehrkes Bilder blicken auf das Berlin der letzten Dekade, wobei gerade das ungezeigt bleibt, was die letzten Jahre für viele ausgemacht hat: Nirgendwo ein polierter SUV, eine Craft Beer Bar oder eine Firmenzentrale der neuen digitalen Arbeitswelt. Stattdessen eine nur vage bestimmbare Melancholie, die zuerst subtil, dann immer eindringlicher für die räumlichen und haptischen Erfahrungen des Stadtraums und dessen gesellschaftliche Bedingungen sensibilisiert. Ein beeindruckendes Buch, das beweist, dass man auch zu einem vermeintlich durchexerzierten Thema wie der Stadt Berlin mit den klassischen Mitteln der Fotografie noch viel erzählen kann.
Text: Gregor Harbusch
Berlin
Andreas Gehrke
Deutsch/Englisch
192 Seiten
Drittel Books, Berlin 2021
ISBN 978-3-9818866-3-4
55 Euro
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Sudan | 30.05.2021 23:09 UhrCoole Fotos!
Gratulation, tolle Aufnahmen!
Ein Kollege aus HH