Die Pandemie hat das Potential der Straße als öffentlichen Raum deutlich vor Augen geführt. Auf einmal stand in Frage, was in der autogerechten Stadt jahrzehntelang Gesetz schien: Autos waren die ungekrönten Könige der Straße. Ihre Besitzer*innen hatten nicht nur überall Vorfahrt, sondern auch ein Abstellrecht – je nach Lage häufig unbegrenzt und gebührenfrei. Inzwischen beanspruchen auch andere diesen Raum: Fahrräder, Fußgänger*innen, Kinder, Stadtteilfeste. Die Argumente liegen auf ihrer Seite, wenn sie sich Begegnungsräume, sichere Schulwege, Gleichberechtigung und grüne Städte wünschen. Die Straße ist für alle da und sie kann viel mehr leisten, als A und B durch Asphalt zu verbinden.
Zu diesem Paradigmenwechsel der europäischen Stadt legen Pola Koch, Steffen de Rudder und Stefan Signer nun das passende Buch vor. Die neue Öffentlichkeit. Europäische Straßenräume des 21. Jahrhunderts versammelt 28 umgebaute Straßenräume aus 14 europäischen Städten. Dabei sind es nicht nur Fotos, sondern vor allem Zeichnungen, die den Wandel von der autogerechten Denkweise hin zu mehr Gemeinschaft aufzeigen. Sie sind das Ergebnis einer Forschungsarbeit am Lehrstuhl Städtebau und Entwerfen an der Bauhaus-Universität Weimar, an der auch 80 Studierende über Jahre beteiligt waren.
Die sieben Kategorien – zum Beispiel Klimastraßen, Nachbarschaftsstraßen, Testräume – zeigen die ganze programmatische Vielfalt des Straßenumbaus. Mit dabei sind so bekannte Beispiele wie der Passeig de Sant Joan in Barcelona oder die Exhibition Road in London, aber auch Neuentdeckungen wie Várkerület im ungarischen Sopron oder der Boulevard Ismail Qemali im albanischen Vlora.
Das Buch möchte für den Umbau von Straßen werben und zur Nachahmung anregen. Dabei bleibt es nicht ohne Kritik an der Situation in Deutschland. Gerade mal zwei Beispiele – die Goethestraße in Kassel und der Radschnellweg Ruhr Stadtviadukt – sind unter den 28 Beispielen. Der Abschied vom Auto, so drückt es Steffen de Rudder diplomatisch aus, wolle hierzulande einfach nicht gelingen. Dabei liefert er durchaus Erklärungen und stellt fest, dass die Pioniere des Straßenumbaus meist Staaten ohne Autoproduktion sind. Während die Stadt Groningen beispielsweise bald 50 Jahre Verkehrswende feiern könne, sei in Deutschland noch nicht einmal klar, ob sie schon begonnen habe.
Text: Friederike Meyer
Die neue Öffentlichkeit. Europäische Straßenräume des 21. Jahrhunderts
Pola Koch, Steffen de Rudder und Stefan Signer (Hg.)
Gestaltung: Bucharchitektur | Kathrin Schmuck, Kiel
Deutsch/English
344 Seiten
ISBN 978-3-944425-27-6
68 Euro
Zum Thema:
Das Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Die neue Öffentlichkeit“. Im Jahr 2020 erschien Die neue Öffentlichkeit. Europäische Stadtplätze des 21. Jahrhunderts.
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...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Nachbar | 15.03.2024 10:43 UhrAlle Städte
...in Deutschland bekommen es nicht auf die Reihe, ordentliche Stadträume zu gestalten. Dies geht einher mit der allgemeinen Qualität von Architektur und Raum (durchschnittlich schlecht). Mitunder geschuldet einer nicht gepflegten Wettbewerbskultur.
Und was weiss ich noch.....