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20.12.2022
Buchtipp: Abenteuer Berliner Schloss
Erinnerungen eines Idealisten
In der nämlichen Einführung als „unwahrscheinliche Geschichte“ angekündigt, bemüht von Boddien gleich zu Beginn seiner Erinnerungen den heldenhaften Odysseus, um sein episches Ringen um die Rekonstruktion zu schildern. Da er sich im weiteren Verlauf unter anderem auch auf ein Werk der Dramatikerin Yasmina Reza beruft und Antoine de Saint-Exupérys Kleinen Prinzen als Gewährsmann verpflichtet, mutet es umso überraschender an, dass Thomas Mann eine Randnotiz bleibt. Wer, wenn nicht Hans Castorp, der tüchtige Held aus dem Roman Der Zauberberg, wäre geeignet, dem norddeutschen Unternehmer von Boddien gegenübergestellt zu werden?
Ist die Schilderung von Castorps sieben Jahre dauerndem Aufenthalt im Alpensanatorium als Abgesang auf ein bürgerliches Zeitalter verstanden worden, das mit dem Kaiserreich zu Ende ging, steht von Boddien für eine engagierte Bürgerlichkeit, die keine 40-Stunden-Woche kennt: „Feierabend wurde zum Fremdwort.“ Als einer, der sich weder dem Schicksal ergibt noch den Entscheidungen der Obrigkeit harrt, dafür aber beste Kontakte zum Verlagshaus Springer unterhält, beschreibt von Boddien seine Bemühungen, die Öffentlichkeit für den Wiederaufbau einzunehmen und die erforderlichen Gelder zu organisieren. Mehr als unwahrscheinlich erscheint es, dass das Parlament ohne das vorherige Wirken des Vereins für den Abriss des Palasts der Republik und die näherungsweise Wiederherstellung des Schlosses gestimmt hätte.
Allen Unterschieden zum Trotz, die demnach zwischen den bürgerlichen Helden zutage treten, sind die Erzählungen durch die Thematisierung der Zeit geeint. Wo Thomas Mann seinen Protagonisten erst gemächlich und dann schneller, zumeist aber chronologisch vorangehen lässt, hat von Boddien allerdings eine kühnere Form gewählt. Wie sonst hätte er seine Bemühungen, dem längst Vergangenen zu neuer Gegenwart zu verhelfen, schildern können? So muss die Schlossattrappe erst durch einen winterlichen Orkan zerstört werden, dann findet sich die vorhergehende Suche nach Geldgeber*innen beschrieben. Womöglich ein Versuch, der stets schwierigen Beziehung zur deutschen Vergangenheit Ausdruck zu verleihen, fällt auch der immer wieder außergewöhnliche Gebrauch der Tempora auf: „Der Palast war ein riesiges, goldbraun glänzendes Gebäude, das sich bei vielen Bürgern der DDR großer Beliebtheit erfreute, weil es ein Erlebnis gewesen war, dort gegessen, gekegelt oder im Großen Saal ein Rockkonzert, einen festlichen Ball erlebt zu haben oder auch einen Parteitag der SED.“
Zeit, die Veränderung zeitigt, vergeht auch zwischen den Seiten des Buches. Rechtfertigt von Boddien die Rekonstruktion einerseits mit dem Argument, dass der „Plan des Architekten das eigentlich geniale Kunstwerk“ darstelle, „dessen bauliche Umsetzung Handwerkern aller Art anvertraut wurde“, ist ein nachfolgendes Kapitel mit den Worten „Die große Kunst der Bildhauer“ überschrieben. (Da der Autor den anderen Gewerken überraschenderweise keine vergleichbaren Kapitel zugeeignet hat, werden die Leser*innen etwa nach einem Abschnitt über „Die große Kunst der Betonbauer“ vergeblich suchen.)
Als dem traurigen Helden eines traurigen Bildungsromans gelingt es Castorp nicht, aus den gegensätzlichen Lektionen, die seine Mitpatienten ihm erteilen, eigene Schlüsse zu ziehen. Demgegenüber zeigt sich, dass von Boddien – mitnichten einer ewigen Vorvergangenheit verhaftet – seine Tatkraft in den Dienst einer glücklich voranschreitenden Geschichte gestellt hat. Obschon die „Vertreter der Moderne, aber auch zahlreiche Architekten und Kunsthistoriker“ das Rekonstruktionsvorhaben kritisierten, konnte er doch auf den „einfachen Bürger“ setzen. Da er andererseits, wie in den Erinnerungen geschildert, auf Unterstützung aus der deutschen Wirtschaft bauen durfte, liest sich die Dokumentation des Schlosswiederaufbaus wie die Schilderung einer historischen Synthese, an deren Ende die Überwindung aller Klassengegensätze steht.
Die Versöhnlichkeit, die mithin aus den Seiten des Buches spricht, macht die Veröffentlichung zum idealen Weihnachtsgeschenk. Umso erfreulicher, dass von Boddiens Erinnerungen nun (nachdem der Architekt Philipp Oswalt „diskriminierende Falschaussagen“ in der Erstauflage beanstandet und das Berliner Landgericht eine strafbewehrte Unterlassung verfügt hatte) in einer zweiten, korrigierten Auflage vorliegen.
Selbstverständlich kann das wiedererrichtete Schloss, das bestenfalls aus der Ferne und mit etwas Fantasie an den Vorvorgängerbau erinnert, keinen Aufschluss über die preußische Königszeit geben. Zugleich bedingen die politischen Debatten dieser Tage, allen voran die Klimafrage, dass das Humboldt-Forum auch als Neubau des 21. Jahrhunderts anachronistisch erscheinen muss. Wer künftig allerdings etwas über die Sorgen und Sehnsüchte erfahren möchte, die das bürgerliche Deutschland in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bewegten, findet in Wilhelm von Boddiens Erinnerungen ein bemerkenswertes Zeitzeugnis.
Text: Achim Reese
Abenteuer Berliner Schloss. Erinnerungen eines Idealisten
Wilhelm von Boddien
Gestaltung: Peter Nils Dorén Grafikdesign
224 Seiten
Wasmuth & Zohlen, Berlin 2022
ISBN 978-3803023704
24,80 Euro
Zum Thema:
Interesse an anderen Perspektiven auf das Berliner Schloss? Der Künstler Eiko Grimberg hat vor zwei Jahren das Buch Rückschaufehler publiziert. Letztes Jahr erschien Des Kaisers Nachmieter. Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss von Christian Walther, das sich der wechselvollen Nutzungsgeschichte des Hauses widmete.
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In den Erinnerungen findet sich der Hinweis, dass der Bau auf der Spreeinsel im Mai 1945 zwar beschädigt, aber besser erhalten gewesen sei als etwa das Charlottenburger Schloss.
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