In Bremen gibt es 5.310 Straßen, Wege und Plätze von denen 1.005 nach Personen benannt sind. Nur 97 von ihnen tragen die Namen von Frauen, was anteilig nicht einmal ein Zehntel ausmacht. Diese Zahlen verdeutlichen schlaglichtartig die Unterrepräsentation von Frauen im öffentlichen Raum sowie strukturelle Ungleichheit mit Blick auf Genderfragen. Sie entstammen der Publikation Architektur für Alle?! Emanzipatorische Bewegungen in Planung und Raum, die im vergangenen Jahr beim Carl Schünemann Verlag erschienen ist.
Die gleichnamige Ausstellung zum Thema läuft aktuell im Bremer Zentrum für Baukultur und ist dort noch bis Sonntag, 12. März 2023 zu sehen. Wer es nicht in die Hansestadt schafft oder sich lieber in das Thema einlesen möchte, erhält an dieser Stelle die nachdrückliche Empfehlung für die Begleitpublikation. Diese rückt insbesondere die Arbeitswelten von Frauen in Architektur und Stadtplanung in den Fokus und zeichnet darüber hinaus anhand von Essays, biografischen Beispielen sowie Umfragen und Interviews aktuelle Diskurse nach.
Beim Aufschlagen des Buches fällt unmittelbar dessen reiche Bebilderung ins Auge, von Fotografien und Zeitungsausschnitten über Grafiken und Plakate bis hin zu künstlerischen Arbeiten. Die Kontexte sind sowohl historisch als auch zeitgenössisch und stehen meist in direktem Bezug zur Stadt Bremen. Thematisch spannt das Buch einen Bogen von struktureller Benachteiligung innerhalb der Architekturbranche über Sexismus und Rollenbilder bis hin zu feministischer Stadtplanung sowie Organisationen und bauliche Umsetzungen innerhalb der Frauenbewegung in Bremen.
Um zu einer wirklichen „Architektur für alle“ zu finden, liegen der Publikation und der Ausstellung ein intersektionales Verständnis von Feminismus zugrunde. Die Autor*innen betonen, dass trotz der Errungenschaften der (weißen) Frauenbewegung der 1980er Jahre die „berufliche ‘Befreiung’ der Frau aus der Vorherrschaft der Männer“ in erster Linie zur Befreiung „weißer, heterosexueller Frauen mit akademischen Bildungsbiografien“ beigetragen habe, woraus sich neue Machtstrukturen entwickelten. Diese milderten zwar die Dimension des Geschlechts, schrieben aber „weitere Unterdrückungsmechanismen“ fort, da Stimmen von strukturell (mehrfach)diskriminierten Gruppen häufig keinen Raum erhielten. Diesbezüglich reflektieren die Kurator*innen auch ihre eigene Rolle in Form eines Gesprächs und thematisieren zudem die binäre Kategorisierung von „Mann“ und „Frau“ innerhalb der akademischen Forschung zur Gleichstellung in der Architektur.
Auch das Verschwinden und die Nichtbeachtung von weiblichen Biografien innerhalb architekturgeschichtlicher Diskurse ist im Buch präsent. Dem stellt das Buch Kurzporträts von Bremer Architektinnen der Nachkriegsjahre samt einiger ihrer öffentlich nicht rezipierten Werke entgegen. Lore Krajewski, Heidi Breyer-Starke, Maria Alexandra Mahlberg-Tippel oder Inge Sommer sind Namen, die nach der Lektüre im Kopf bleiben.
Thematisiert wird auch die Ausbildungsfrage. Denn auch wenn mittlerweile nahezu alle Hochschulen und Universitäten der Architektur in Deutschland mehrheitlich Frauen ausbilden, zeigt sich in der Praxis nach wie vor ein deutliches Ungleichgewicht. In den Kammern liegt der Anteil von Frauen bei 34 Prozent, lediglich 25 Prozent der Büroinhaber*innen sind weiblich und beim Pritzker Prize sind es nur fünf Prozent Frauen. Eine im Rahmen der Ausstellung durchgeführte Umfrage unter Mitgliedern der Architektenkammer Bremen zeigt auch abweichende Wahrnehmungen von Rollenzuschreibungen: „Während Männer oft der Meinung sind, Sorgeaufgaben seien im Büro gleich unter den Geschlechtern verteilt, sehen Frauen ganz klar eine ungleiche Verteilung zu ihren Lasten.“
Insgesamt wird durch das Buch deutlich, dass Frauen trotz positiver Veränderungen der letzten Jahrzehnte weiterhin häufig weniger sichtbar sind als ihre männlichen Kollegen und Veränderungen zu langsam vonstattengehen. Die Bremer Verteilung von weiblichen Straßennamen ist dafür ein trauriges Beispiel. Zwar hat sich seit 1945 die Zahl von fünf auf 97 nach Frauen benannten Straßen, Plätzen und Wegen erhöht, allerdings zeigt sich auf fast 80 Jahre gerechnet, dass dies eindeutig zu wenig ist.
Text: Ariann Schwarz
Architektur für Alle?! Emanzipatorische Bewegungen in Planung und Raum.
Bremer Zentrum für Baukultur (Hg.)
220 Seiten
Carl Schünemann Verlag, Bremen 2022
ISBN 978-3-7961-1169-3
25 Euro
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