Schafwolle verfügt über hervorragende Eigenschaften – sie ist unter anderem temperatur- und feuchtigkeitsregulierend, schalldämmend, atmungsaktiv und vollständig biologisch abbaubar. Noch dazu ist sie massenweise verfügbar, denn Schafe müssen einmal im Jahr geschoren werden. In Europa werden die Tiere heute vor allem zur Fleisch- und Milchgewinnung sowie zur Landschaftspflege gehalten. Für ihre Wolle gibt es hingegen keinen nennenswerten Absatzmarkt mehr, seit die Infrastruktur für deren Verarbeitung durch die Textilindustrie zum größten Teil nach Australien, Neuseeland und China abgewandert ist. Hiesige Schäfer*innen sind daher gezwungen, das Naturprodukt zu verschenken oder als Abfall zu verbrennen oder kostenpflichtig zu entsorgen.
Ließe sich der hochwertige, nachwachsende Rohstoff stattdessen nicht im größeren Stil sinnvoll nutzen? Beispielsweise als CO2-neutrales Baumaterial? Diese Frage treibt seit mehreren Jahren die Künstlerin Folke Köbberling um. Als Professorin an der TU Braunschweig leitet sie dort das Institut für Architekturbezogene Kunst (IAK). Sie arbeitete lange mit dem 2022 früh verstorbenen Künstler und Architekt Martin Kaltwasser zusammen, ist bekannt für Interventionen im urbanen Raum und künstlerische Kreationen aus scheinbar wertlosen Materialen.
2018 begann Köbberling, gemeinsam mit ihren Studierenden das Potenzial von Rohwolle für die Architektur experimentell zu erforschen. Die kürzlich im Hamburger Verlag adocs erschienene Publikation Wollbau gibt einen Einblick in entsprechende Versuchsanordnungen und dabei gewonnene Erkenntnisse zu möglichen Anwendungen des Naturmaterials. Interdisziplinäre Hintergrundtexte mehrerer Autor*innen runden das an Abbildungen reiche Buch ab.
Der erste Teil resümiert verschiedene Arbeiten Köbberlings zu Schafen und Wolle. So zogen beispielsweise 2019 in einem Demonstrationszug knapp 200 Schafe mit ihren Hüter*innen durch Berlins Mitte. Fünf Tiere wurden anschließend als „Nachbarn auf Zeit“ von Anwohner*innen des Hansaviertels auf einer ebendort gelegenen Wiese vier Wochen lang versorgt. Ihr mit Wolle verkleideter Stall zog als weithin sichtbare Raumskulptur die Aufmerksamkeit von Passant*innen an – und ziert nun das Cover der 200 Seiten starken Publikation.
Der umfangreiche zweite Teil des Buches informiert zu konkreten Eigenschaften von Wollfasern und den am IAK durchgeführten Experimenten. Anhand von künstlerischen Projekten und Untersuchungsergebnissen werden praktische Einsatzmöglichkeiten in den Bereichen Akustik, Armierung, Dämmung, Schutz, Schadstoffabbau und Düngung eruiert. So wurden Konstruktionsversuche mit Gemischen aus Wolle, Lehm und Jute durchgeführt; Dämmbausteine hergestellt; Fassaden und Dächer mit Wolle bedeckt oder Verbindungen mit Pilzmyzel einbezogen. Getestet wurde außerdem, wie Mottenbefall auf ökologische Weise verhindert werden kann. Auch das wichtige Thema Brandschutz kommt zur Sprache.
Die vielen Fotos, mit denen die vorgestellten Projekte dokumentiert sind, zeigen immer wieder die faszinierende Erscheinung von Wollgebilden neben all ihren vielseitigen Eigenschaften. Man möchte zu gerne in die flauschigen Wände hineingreifen. Ein Gefühl von warmer Behaglichkeit durchzieht das Buch. Zugleich beeindruckt der Einfallsreichtum, mit dem Köbberling und ihre Studierenden das Material in Anwendung bringen. Es ist höchste Zeit für eine neue Wertschätzung von Wolle!
Text: Diana Artus
Wollbau. Wolle – eine unterschätzte Ressource
Folke Köbberling
Gestaltung: Katharina Lemke, Leo Lamprecht
200 Seiten
adocs, Hamburg 2024
ISBN 978-3-943253-75-7
28 Euro