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22.07.2020
Buchtipp: Hasenheide 13
Eine Berliner Vergnügungsstätte im Wandel der Zeiten
An der Hasenheide 13, wo die Berliner Stadtbezirke Kreuzberg und Neukölln aufeinandertreffen, steht ein unauffälliges Mietshaus. Von der Straße aus gesehen deutet heute nichts mehr darauf hin, dass es in seinem Hinterhof in den 1970er Jahren einen futuristischen Tanztempel gab, in dem der DJ in einer raumschiffartigen Kapsel auf und ab fuhr. Auch das Kino mit 1.000 Sitzplätzen und großer Neonreklame, das sich in den 1950ern dort befand, ist längst in Vergessenheit geraten – ebenso wie mehrere Festsäle, die vor dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang eine stadtbekannte Vergnügungsadresse waren. Der größte von ihnen, ein 1899 erbautes, 18 Meter hohes Saalgebäude, das später Kino und Disko beherbergte, steht jedoch noch immer in dem Hof an der Hasenheide. Verwaist und bereits zum Abriss vorgesehen, gibt es nun eine neue Perspektive für den geschichtsträchtigen Bau: 2018 wurde er von dem Kunstsammler Heiner Wemhöner gekauft, der hier nach einer behutsamen Sanierung ab 2022 öffentlich Kunst ausstellen will.
Zunächst hat die Sammlung Wemhöner nun eine mit Hasenheide 13 betitelte Publikation herausgegeben, die die wechselvolle Geschichte des künftigen Ausstellungsortes nachzeichnet. In den gut 120 Jahren seit seiner Erbauung wechselte der Saal mehrmals das Aussehen und trug zahlreiche klingende Namen: Kliems Festsäle, Primus Palast, Cheetah, Sector, Joe an der Hasenheide, Pleasure Dome. Der Autor und Historiker Lothar Uebel lässt all diese verschiedenen Phasen so spannend und unterhaltsam Revue passieren, dass man das Buch erst dann wieder schließt, wenn man es durchgelesen hat. Ergänzt werden Uebels Recherchen durch umfangreiches historisches Bildmaterial, das auf faszinierende Weise vor Augen führt, wie radikal und unvorhersehbar sich Räume und Architekturen im Lauf der Zeiten verwandeln können. Das schön gestaltete Buch im Leineneinband informiert dabei nicht nur über die Vergangenheit der Hasenheide 13, sondern auch über die Entwicklung Berlins in den letzten 200 Jahren.
So ist beispielsweise zu erfahren, dass die Hasenheide im 19. Jahrhundert die Vergnügungsmeile der sogenannten kleinen Leute war, während sich die Oberschicht im Tiergarten verlustierte. Im Zuge dessen entstanden entlang des Parks zahlreiche Gartenlokale und Kaffeewirtschaften, unter anderem auf dem Grundstück mit der Nummer 13. Schon um 1820 bewarb der damalige Inhaber Pfaffenländer im städtischen Nachrichtenblatt hier ein „Wurstpicknick“ für acht Groschen und ein „großes Concert mit Saiten-Instrumenten“. In den 1870er Jahren übernahm die Familie Kliem das Etablissement, benannte es in „Kliems Festsäle“ um und baute in kurzer Zeit mehrmals an, darunter eine Kegelbahn und verschiedene Tanzsalons. Das Highlight bildete das bereits erwähnte große Saalgebäude, entworfen vom Architekten A. E. Witting, der auch am Ballhaus Naunynstraße mitwirkte. Der Innenarchitekt Max Welsch zeichnete für das opulente Interieur verantwortlich.
Der Saal bot den räumlichen Rahmen für Bälle, Theateraufführungen – unter anderem von Erwin Piscator –, Boxkämpfe und Geflügelausstellungen, wurde im Ersten Weltkrieg zum Lazarett und war immer wieder Schauplatz politischer Versammlungen. Nach einer Zwischennutzung als Stahllager im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude 1946 als Kino neu erfunden. 1968 und mehrere Millionen investierte DM später beherbergte es die legendäre Diskothek Cheetah, deren spacige Innenausstattung nach Zeichnungen des Architekten Lothar Busch entstand. Ihre Erschließung erfolgte durch zwei das Vorderhaus querende Röhren. Sie sind seit gut zehn Jahren verschwunden, aber auf Google Streetview noch zu sehen. Ab den 1980er Jahren folgten diverse Namens- und Eigentümerwechsel und immer neue Pleiten. Ein in den 1990er Jahren geplanter und fast fertiggestellter Saunaclub wurde gar nicht erst eröffnet. Der letzte Mieter, die Firma Urban Industrial, verkaufte hier von 2016–18 historisches Industriemobiliar. Danach sollte der Abriss des Saals erfolgen. Glücklicherweise schlug die Geschichte in diesem Moment erneut eine Volte: Der Unternehmer Wemhöner, 2018 auf der Suche nach einer für die Ausstellung seiner Sammlung geeigneten Immobilie, entdeckte den Ort. Wir dürfen nun gespannt sein auf das nächste Kapitel der Hasenheide 13.
Text: Diana Artus
Hasenheide 13
Sammlung Wemhöner (Hg.), Lothar Uebel (Autor)
208 Seiten, 136 Abbildungen
Jovis Verlag, Berlin 2020
ISBN 978-3-86859-650-2
24 Euro
Zunächst hat die Sammlung Wemhöner nun eine mit Hasenheide 13 betitelte Publikation herausgegeben, die die wechselvolle Geschichte des künftigen Ausstellungsortes nachzeichnet. In den gut 120 Jahren seit seiner Erbauung wechselte der Saal mehrmals das Aussehen und trug zahlreiche klingende Namen: Kliems Festsäle, Primus Palast, Cheetah, Sector, Joe an der Hasenheide, Pleasure Dome. Der Autor und Historiker Lothar Uebel lässt all diese verschiedenen Phasen so spannend und unterhaltsam Revue passieren, dass man das Buch erst dann wieder schließt, wenn man es durchgelesen hat. Ergänzt werden Uebels Recherchen durch umfangreiches historisches Bildmaterial, das auf faszinierende Weise vor Augen führt, wie radikal und unvorhersehbar sich Räume und Architekturen im Lauf der Zeiten verwandeln können. Das schön gestaltete Buch im Leineneinband informiert dabei nicht nur über die Vergangenheit der Hasenheide 13, sondern auch über die Entwicklung Berlins in den letzten 200 Jahren.
So ist beispielsweise zu erfahren, dass die Hasenheide im 19. Jahrhundert die Vergnügungsmeile der sogenannten kleinen Leute war, während sich die Oberschicht im Tiergarten verlustierte. Im Zuge dessen entstanden entlang des Parks zahlreiche Gartenlokale und Kaffeewirtschaften, unter anderem auf dem Grundstück mit der Nummer 13. Schon um 1820 bewarb der damalige Inhaber Pfaffenländer im städtischen Nachrichtenblatt hier ein „Wurstpicknick“ für acht Groschen und ein „großes Concert mit Saiten-Instrumenten“. In den 1870er Jahren übernahm die Familie Kliem das Etablissement, benannte es in „Kliems Festsäle“ um und baute in kurzer Zeit mehrmals an, darunter eine Kegelbahn und verschiedene Tanzsalons. Das Highlight bildete das bereits erwähnte große Saalgebäude, entworfen vom Architekten A. E. Witting, der auch am Ballhaus Naunynstraße mitwirkte. Der Innenarchitekt Max Welsch zeichnete für das opulente Interieur verantwortlich.
Der Saal bot den räumlichen Rahmen für Bälle, Theateraufführungen – unter anderem von Erwin Piscator –, Boxkämpfe und Geflügelausstellungen, wurde im Ersten Weltkrieg zum Lazarett und war immer wieder Schauplatz politischer Versammlungen. Nach einer Zwischennutzung als Stahllager im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude 1946 als Kino neu erfunden. 1968 und mehrere Millionen investierte DM später beherbergte es die legendäre Diskothek Cheetah, deren spacige Innenausstattung nach Zeichnungen des Architekten Lothar Busch entstand. Ihre Erschließung erfolgte durch zwei das Vorderhaus querende Röhren. Sie sind seit gut zehn Jahren verschwunden, aber auf Google Streetview noch zu sehen. Ab den 1980er Jahren folgten diverse Namens- und Eigentümerwechsel und immer neue Pleiten. Ein in den 1990er Jahren geplanter und fast fertiggestellter Saunaclub wurde gar nicht erst eröffnet. Der letzte Mieter, die Firma Urban Industrial, verkaufte hier von 2016–18 historisches Industriemobiliar. Danach sollte der Abriss des Saals erfolgen. Glücklicherweise schlug die Geschichte in diesem Moment erneut eine Volte: Der Unternehmer Wemhöner, 2018 auf der Suche nach einer für die Ausstellung seiner Sammlung geeigneten Immobilie, entdeckte den Ort. Wir dürfen nun gespannt sein auf das nächste Kapitel der Hasenheide 13.
Text: Diana Artus
Hasenheide 13
Sammlung Wemhöner (Hg.), Lothar Uebel (Autor)
208 Seiten, 136 Abbildungen
Jovis Verlag, Berlin 2020
ISBN 978-3-86859-650-2
24 Euro
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Der große Saal der Vergnügungsstätte Kliems Festsäle an der Hasenheide 13 im Jahr 1905.
Derselbe Saal knapp 50 Jahre später: das Großkino Primus Palast um 1952.
Die Jahre gehen weiter ins Land und aus dem Kino wird der futuristische Tanzclub Cheetah, hier 1968.
Und heute? Der leere Saal im Jahr 2019 – nach seiner Sanierung wird die Kunstsammlung Wemhöner einziehen.
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