„Schon wieder Brutalismus?“, mag man sich angesichts des von Johann Gallis und Albert Kirchengast publizierten Bandes Brutalismus in Österreich 1960–1980 fragen. Aus einer großangelegten Online-Kampagne resultierend, hatte das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt erst vor fünf Jahren die vielbeachtete Ausstellung SOS Brutalismus gezeigt. Dass die Herausgeber an genau diese Auseinandersetzung anschließen möchten, offenbart schon das Interview, mit dem das Buch eröffnet: Nebst dem Denkmalpfleger Nott Caviezel kommt auch der Kurator Oliver Elser zu Wort, der die Frankfurter Ausstellung betreut hatte.
Statt den Brutalismus aber neuerlich als globales Ereignis vorzustellen, schickt Kirchengast der Publikation die These voraus, dass dieses „Architekturphänomen“ ungeachtet seiner weltweiten Verbreitung zu einer immer wieder regionalspezifischen Ausformulierung gelangen musste. Um die Vielfalt zu dokumentieren, die allein die brutalistische Architektur in Österreich auszeichnet, haben die Herausgeber deshalb neun Beiträge versammelt, die sich der wuchtigen Spätmoderne in jedem der neun Bundesländer widmen.
Doris Grandits und Theresa Knosp etwa rufen durch die Vorstellung brutalistischer Infrastrukturbauwerke in Niederösterreich den Feinsinn und die Sorgfalt in Erinnerung, womit in den 1970er Jahren auch Feuerwachen und Bahnhöfe gestaltet wurden. Sabine Weigl hingegen nähert sich dem Brutalismus in Salzburg, indem sie das Bemühen schildert, den Kurort Bad Gastein durch den Bau eines Kongresszentrums zu revitalisieren. Mit dem Neubau konnten neben Kurgästen und Sporturlauber*innen auch Konferenzteilnehmer*innen als drittes Publikumssegment adressiert werden. Darüber hinaus sei mit dem Kongresshaus, das samt seiner öffentlich begehbaren Plattform über den Hang kragt und dadurch den Straßenraum aufweitet, jedoch auch ein städtischer Platz entstanden, wie er Bad Gastein bis dahin gefehlt habe.
Auf vorbildliche Weise illustriert der Bau nach Plänen von Gerhard Garstenauer die drei Kriterien, die Reyner Banham 1955 als Charakteristika des Brutalismus bestimmt hatte: Nebst der Nachvollziehbarkeit des Grundrisses und dem Einsatz naheliegender Materialien hatte der Architekturhistoriker auch die Exposition der Tragstruktur genannt. Anhand dieser Punkte lässt sich erahnen, weshalb eine Architektur, die schon aufgrund der enormen Betonmassen unzeitgemäß wirken muss, seit einigen Jahren neuerliche Aufmerksamkeit findet: Während sich diese Renaissance des Brutalismus paradoxerweise, wie eingangs geschildert, dem Internet verdankt, dürfte seine Popularität nicht zuletzt darin liegen, dass er der Allgegenwart digitaler Bilder, glatt und makellos, die sinnliche Erfahrbarkeit skulpturaler Räume entgegensetzt.
Zugleich, so Kirchengast, beruhe die Relevanz gerade auch des österreichischen Brutalismus darauf, dass Bauten wie das Bad Gasteiner Kongresshaus soziale Schnittpunkte konstituierten und damit Möglichkeiten zur Begegnung eröffneten. Die Vorbildlichkeit, die die Architektur somit für das künftige Bauen besitze, werde auch durch ihre Sperrigkeit nicht gemindert: „Der einfachen Anpassung an die konsumistische Widerstandslosigkeit gegenüber bleibt sie widerständig, verdeutlicht, dass das Geläufige nicht immer die beste Option wäre.“
Text: Achim Reese
Brutalismus in Österreich 1960–1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven
Johann Gallis, Albert Kirchengast (Hg.)
224 Seiten
Böhlau, Wien 2022
ISBN 978-3205213345
45 Euro
Zum Thema:
Dem österreichischen Brutalismus hatte sich Sonja Pisarik, als Autorin auch im vorgestellten Band vertreten, bereits 2018 in der Baunetzwoche #513: Brutal schön! gewidmet. Das von Gerhard Garstenauer entworfene Kongresszenturm findet auch in der Baunetzwoche #594: Bad Gastein Erwähnung.
Was ist eigentlich Brutalismus? Eine Begriffsdefinition gibt es bei Baunetz Wissen.