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07.12.2016

Kunst am Bau V: Maß und Übermaß

Ein Versuch über die Frage des Gespürs


Was ist mit einer Kunst am Bau, die keiner sieht? Mit den Skulpturen in Hochsicherheitstrakten und Gemälden in verschlossenen Konferenzräumen? Solange sie angemessen ist und für den Betrachter einen Gewinn bringt, meint Martin Seidel, ist sie ihre Existenz und ihren Aufwand wert. Doch wie lässt sich dieses vage Kriterium der  Angemessenheit ermitteln? Was ist Maß und was ist Übermaß bei der Kunst am Bau?

Von Martin Seidel

Kunst am Bau befindet sich mittlerweile weniger „am“ Bau“ als häufiger darin, davor, dahinter, daneben oder sogar darüber. Der Begriff „Kunst am Bau“ sagt eigentlich nur, dass Kunst anlässlich einer Baumaßnahme ausschließlich für diese entsteht und aus einem Prozentteil der Bausumme finanziert wird. Ansonsten ist „Kunst am Bau“ ein eher miefiger Begriff aus grauer Vorzeit mit dem zusätzlichen Nachteil, dass er den teils großartigen Leistungen dieser Kunst nicht ansatzweise gerecht wird. Das Potential der Kunst am Bau verdankt sich gerade der Freiheit, die man ihr in Standort-, Gattungs- und Gestaltungsfragen lässt.

Das einzige, was der zuletzt 2012 überarbeitete „Leitfaden Kunst am Bau“ des Bauministeriums von ihr erwartet, ist Angemessenheit. Die Kunst soll formal und/oder thematisch zur Architektur, ihrer Umgebung und/oder ihrer Nutzung passen wie umgekehrt die Architektur zur Kunst. Diese alte „Decorum“-Regel der Angemessenheit ist eine ästhetische Allzweckwaffe, die, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl bedient, tatsächlich gut funktioniert. Ein Problem kann manchmal nur die Unausweichlichkeit der Kunst-am-Bau-Verpflichtung werden. Auf der Bundesebene und, wo sie angewendet wird, auch auf der Länderebene gilt die Kunst-am-Bau-Regel rundum: für neue Regierungsgebäude wie das Innen- oder das Bildungsministerium in Berlin, für den Bundesnachrichtendienst, den Flughafen Schönefeld, für Forschungsgebäude, Zollanlagen, Kasernen, Gerichte, Bibliotheken, Wasser- und Schifffahrtsämter, Ausbildungs- und Qualifizierungszentren, Schulen und KiTAs. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, dass Kunst an entlegenen Orten landet, etwa in Hochsicherheitsbereichen, die manchmal noch nicht einmal beim Namen genannt werden dürfen oder in einer Kampfjetinstandsetzungshalle auf einem NATO Flugplatz. Auch in Gefängnissen muss Kunst am Bau kein Luxus sein. Robert Patz hat 2012 alle Wände eines MRT-Forschungsgebäudes in Berlin-Buch mit einer Graphic-Novel-Tapete versehen, die die skurrile Geschichte eines Praktikanten erzählt, der in einem Tomographen verschwindet. Die Arbeit hat nur wenige Betrachter. Zeigt dieser Umstand die Maßlosigkeit und die Mittelverschwendung der Kunst am Bau auf? Diesem Vorwurf entgegenzuhalten wäre, dass es das Werk von Robert Patz ohne die Kunst-am-Bau-Regel überhaupt nicht gäbe.

Wenn gute Kunst am Bau auch nur für einen Betrachter ein Gewinn ist, hat sie sich gelohnt. Das wohlmeinende Gießkannenprinzip der Kunst am Bau hat aber doch Tücken. Zum Beispiel bei Kulturbauten. Die 1992 fertiggestellte Bundeskunsthalle in Bonn war für Kunst am Bau ein hartes Pflaster. Die eingesetzte Kommission fand keine Lösungen, unter anderem wegen der verfänglichen Nähe der Kunst am Bau zu den wechselnden Ausstellungsexponaten. Um die Kunst-am-Bau-Gelder nicht verfallen zu lassen, entschied man sich unter anderem für den Ankauf des 1971 ohne Auftrag entstandenen, sechsteiligen Wolken-Gemäldes von Gerhard Richter. Das Richter-Gemälde ist Kunst am Bau, obwohl es nicht fest mit der Architektur verbunden ist und für 1,5 Millionen Mark in einen Konferenzraum gelangte, der nur gelegentlich und exklusiv genutzt wird. Kunst am Bau als Kunst- und Künstlerförderung und als Kunst für alle stellt man sich – durchaus im Einklang mit dem verbindlichen „Leitfaden Kunst am Bau“ – anders vor. Fast 25 Jahre ist es her, dass das Richter-Exponat als Notlösung in den Konferenzraum der Bundeskunsthalle gelangte. Noch immer aber duldet die Kunst-am-Bau-Regel hierzulande keinen Aufschub und hat für schwierige Fälle keine wirklichen Notausgänge eingerichtet. In Österreich schafft man zunehmend die Möglichkeit, im Zweifel die Gelder zu „poolen“ und für bessere Gelegenheiten und Ideen aufzusparen.

Bei Neubauten, wenn sie nur groß und teuer genug sind, wird reichlich Kunst angeschafft. Drei, vier parallel laufende Kunstwettbewerbe sind nichts Besonderes. Und wenn Restgelder vorhanden sind, dann gibt es zu den vier Kunst-am-Bau-Werken noch ein fünftes dazu! In Gesine Weinmillers Bundesarbeitsgericht in Erfurt verteilten sich im Jahr 2000 die Gelder auf die Skulpturen, mehr- bis vielteilige Gemäldeserien, Installationen und Textilkunstwerke von acht Künstlern. Gerne greifen Ministerien zudem auf ihre Bestände zurück, bauen weitere Skulpturen auf und bestücken die Flure in engem Abstand mit Werken aus ihren Grafiksammlungen.

Vielfalt versinkt im Übermaß – dachte man sich dann auch bei der Sanierung der Bonner Kreuzbauten im Jahr 2010, einer noch heute von Bundesministerien genutzten Liegenschaft. Der Bund als Bauherr reagierte mit einer angepassten Kunstwettbewerbsauslobung auf die vorhandenen Plastiken und Installationen. Man wünschte, dass der Bestand „neu interpretiert und zu einer Bedeutungsebene zusammengefasst“ würde. So kam es 2014 zur interaktiven Videoinstallation von Thorsten Goldberg, die zwölf Ansichten des Geländes und seiner Kunstobjekte auf die Glasfassade der Kantine projiziert.

Pflanzen, Stellwände, Stehtische, Rollwagen und dergleichen gehören zu den natürlichen Feinden der Kunst am Bau. Die Frage: Wer schützt die arme Kunst vor den Nutzern? Aber auch umgekehrt: Wer schützt die armen Nutzer vor der Kunst? In großer Zahl und Unangemessenheit machen sich Wandbilder und Installationen in den Gebäuden breit, als seien Foyers und Treppenhallen nur für sie bestimmt und nicht auch für den täglichen Gebrauch, für Empfänge, zum Sitzen und für Infotafeln.

Das Gerangel um die besten Plätze bekommt derzeit (temporär?) die Videoinstallation zu spüren, die Marcel Odenbach 2000 für den Repräsentationshof des Justizministeriums entworfen hat. Ungeachtet der sinngebenden waagschalhaften Anordnung der Bildschirme sind genau zwischen ihnen eine Absperrkordel, zwei Originalstühle und eine Bild-/Texttafel zur Erinnerung an die Verkündung der Reisefreiheit aufgebaut. Die Erinnerung macht Sinn! Denn die legendäre Pressekonferenz vom 9. November 1989, in der Günter Schabowski als Pressesprecher der DDR-Regierung das uneingeschränkte Reisen zwischen Ost- und Westdeutschland bekanntgab, fand in den Räumen dieses Gebäudes statt, das heute das Justizministerium nutzt. Die Sensibilität gegenüber dem besonderen Standort und seiner Kunst aber könnte größer sein. Groß hingegen war die Kurzsichtigkeit der Kunst-am-Bau-Planer, die meinten, der hoch frequentierte Standort von Odenbachs Installation könnte auf Dauer allein der Kunst vorbehalten bleiben. Die unglückliche Platzierung der Reisefreiheit-Inszenierung vor Odenbachs Kunst fällt aus einem anderen Grund noch besonders auf. Denn das Justizministerium verfügt bereits über eine große Kunst-am-Bau-Installation von Ulrich Schröder, die sich dezidiert dem Thema „Verkündung der Reisefreiheit“ widmet und sich hinter einem großen Fenster sogar dem öffentlichen Raum an der Mohrenstraße öffnet.

Redundanzen und Interessenkonflikte zwischen Kunstwerken und der täglichen Nutzung von Gebäuden sind für die Kunst am Bau keine seltenen Phänomene. Um sie zu vermeiden, braucht es keine Statuten oder allgemeine Regeln. Etwas Fingerspitzengefühl – sowohl auf Seiten der planenden Kunstverantwortlichen als auch auf Seiten der Nutzer – würde manchmal schon reichen.


Zum Thema:

Alle Teile der Serie

I: Zwischen Staatsauftrag, Marketing und Feigenblatt
II: Das verdammte Image
III: Eine luxuriöse Verbindung
IV: Blühender Beton im Abriss
V: Maß und Übermaß
VI: Manchmal ist schon alles weg
VII: Warten auf Godot
VIII: Und dann kommt Tinos Sängerin


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