Trotz jahrzehntelanger, zuweilen vernichtender Kritik kann von einem Abriss der Großwohnsiedlungen, die in den 1960er und -70er Jahren am Rande ost- wie westdeutscher Städte entstanden sind, keine Rede mehr sein. Graue Energie und Wohnraummangel machen dies undenkbar. Und schließlich bieten die Ensembles ihren Bewohner*innen nicht allein nur Zimmer, Küche und Bad – sie sind vielmehr auch Orte ihrer Erinnerungen und sozialen Netzwerke.
Da die Komplexe zudem den größten Teil der gealterten, pflegebedürftigen Bausubstanz ausmachen, wie
Andreas Müsseler und
Khaled Mostafa schreiben, gilt es deshalb, Voraussetzungen für ihre künftige Ertüchtigung zu schaffen. Entsprechend verfolgen die Autoren mit ihrem
Tafelwerk Großwohnsiedlung. Ein Phänomen der Nachkriegszeit das Ziel, „in einem Feldversuch an fünf ausgewählten deutschen Großwohnsiedlungen eine Methodik zu erarbeiten, die die Erfassung großer Gebäudebestände und ihre systematische Beschreibung ermöglicht“. Als Fallstudien haben sie dazu die Ensembles Halle-Neustadt, Köln-Chorweiler, Berlin-Gropiusstadt, Hamburg-Steilshoop sowie München-Neuperlach ausgewählt. Den Fokus legen sie dabei auf die Gebäudehülle, die sie als Schnittstelle zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben ausmachen.
Indem sie die bisherigen Analysemethoden zu Beginn als unzulänglich kritisieren, entwickeln sie die etablierten Verfahren weiter. Auf Grundlage der Datenbank „Häuserbuch“, an der Professur für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege der TU München von
Andreas Hild (der als Herausgeber von
Tafelwerk Großwohnsiedlung fungiert) angelegt, werden sodann Einzelaspekte der fünf Siedlungen fotografisch erfasst. Konsequent folgen Müsseler und Mostafa dabei dem immergleichen Dreischritt, indem sie von der Gesamtfassade auf ihre konstituierenden Komponenten zoomen und schließlich die einzelnen Bauteile untersuchen.
Anhand sogenannter „Erkenntnislinien“ wird im zweiten Schritt versucht, das Typische sowie das je Besondere der Bauten aufzuzeigen. Dimensionssprünge und Serialität finden dabei ebenso Berücksichtigung wie der unprätentiöse Pragmatismus, der für die Komplexe der 1960er und -70er Jahre nicht minder charakteristisch ist als die weitläufigen, aber gestalterisch oftmals vernachlässigten Freiräume. Was häufig nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen wird – sei es die Ausbildung eines Treppenturmes oder die Schindelverkleidung – erfährt hier besondere Aufmerksamkeit und Würdigung. Können Müsseler und Mostafa mithin vernachlässigte Qualitäten aufzeigen, schärfen sie den Blick für die Eigenheiten dieser Alltagsarchitektur schließlich auch durch einen Vergleich mit Bauten aus anderen Regionen und Dekaden. Die Fassaden der Gropiusstadt etwa stellen sie den Fronten des Haussmann’schen Paris gegenüber.
Den dritten und zugleich umfassendsten Teil der Veröffentlichung bildet ein Katalog, der Hüllflächen, Komponenten und Bauteile kategorisiert und zum Vergleich in einer Fotomatrix darstellt. Dabei werden etwa fassadenständige Haupteingänge ohne weiteren Abschluss von solchen unterschieden, die ein auskragendes oder ein gestütztes Vordach aufweisen, mit einem allseitig geschlossenen Vorbau versehen sind oder in der Ecke liegen. Geschieden sind diese Entrées von vorspringenden Eingängen mit auskragendem Vordach und solchen, die in Rücksprüngen zu finden sind, zugleich wird zwischen überdachten Rückensprüngen und solchen differenziert, die nur bis zum ersten Stock reichen… An Gründlichkeit lassen es die Autoren bestimmt nicht fehlen.
Abzuwarten bleibt, welchen Nutzen das Tafelwerk für die anstehenden Sanierungen entfalten kann. Keineswegs nämlich ein Bildband, kann die Publikation, die ganz ohne Hochglanzaufnahmen auskommt, durchaus als Handreichung für Planer*innen verstanden werden. Wenngleich dem Buch noch etwas editorische Sorgfalt (oder zumindest eine gründliche Rechtschreibprüfung) gut getan hätte, bleibt hervorzuheben, dass die Autoren bei allem Katalogisieren und Kategorisieren die atmosphärischen und ästhetischen Reize der untersuchten Ensembles nicht vergessen haben. So enthalten sie den Leser*innen auch den romantischen Zug nicht vor, der viele der gealterten Komplexe gerade dort auszeichne, wo sich die Natur „den ruppigen, rauen, großmaßstäblichen Gebäudebestand fast wie die verlassenen Tempelanlagen Angkor Wats wieder einverleibt“ habe.
Text: Achim Reese
Tafelwerk Großwohnsiedlung. Ein Phänomen der Nachkriegszeit
Andreas Müsseler, Khaled Mostafa656 Seiten
Gebr. Mann Verlag, Berlin 2022
ISBN 978-3-7861-2889-2
69 Euro
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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auch ein | 14.10.2022 09:19 Uhrkritiker
@1:
TAFELWERK bedeutet dass es tatsächlich (siehe fotos) Bildtafeln sind, zwar in ein buch geheftet aber als übersicht über die bautypen.
im text gut beschrieben.
eine schöne idee statt dem ganzen ideologischen blabla zeichnungen und bilder sprechen zu lassen