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21.12.2021
Buchtipp: Bauteile wiederverwenden
Ein Kompendium zum zirkulären Bauen
Als die Schweizer Stiftung Abendrot 2017 das baubüro in situ (Basel, Zürich) beauftragte, auf einer Halle in Winterthur einen Neubau „so weit wie möglich“ aus wiederverwendeten Bauteilen zu errichten, da war allen Beteiligten klar, dass es sich um ein Pilotprojekt handeln würde. Wie weit konnte es tatsächlich gelingen, im Rahmen der aktuellen Baugesetze und Normen auf neue Materialien vollständig zu verzichten? Die dreigeschossige Aufstockung „K118“ wurde im März 2021 abgeschlossen. Im Herbst ist bei Park Books das dazugehörige Buch erschienen: Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen.
Es ist tatsächlich ein Kompendium geworden und viel mehr als nur die wissenschaftliche Projektdokumentation, die sich die Bauherrin ursprünglich gewünscht hatte. Die Stiftung hatte das Institut Konstruktives Entwerfen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) gebeten, das gesamte Projekt von Anfang an wissenschaftlich neutral zu beobachten und zu analysieren. Nur so könne man prüfen, ob und wie sich die Idee des „zirkulären Bauens“ – ein vollständig auf der Kreislaufwirtschaft basierendes Bauen also – in die Praxis umsetzen ließe.
Entstanden ist ein über 344 Seiten faszinierendes Buch, das nun seinerseits ebenfalls Pionierarbeit leistet. Denn zweifellos muss zum Thema nicht nur noch viel experimentiert und in der Praxis ausprobiert, sondern auch vertiefend geforscht werden. „Kaum jemand hat genügend Fachwissen, um alle Arten von Bauteilen professionell demontieren, aufarbeiten und überprüfen zu können“, schreibt die Architektin und baubüro-Gründerin Barbara Buser. „Erst wenn effiziente Prozesse der Wiederverwendung für die verschiedensten Baumaterialien und Gewerke entwickelt und erprobt sind, kann die Wiederverwendung zum Mainstream werden.“ Eben dies ist das erklärte Ziel.
Tatsächlich nimmt die „Fallstudie K118“ mehrere Teile des Buches ein, in denen detailliert von der „Bauteiljagd“ berichtet wird, von den Möglichkeiten, die gefundenen Materialien normgerecht zu testen und zu prüfen, vom Umplanen – und wie die Pläne mehrmals angepasst werden müssen. Dennoch nimmt K118 nicht einmal den Hauptpart des Buches ein. Immer wieder wird die Perspektive erweitert: Da ist ein Gespräch mit dem belgischen Büro Rotor über deren langjährige Recycling-Praxis, eine Diskussion mit den beiden Wirtschaftsrechtlern Andreas Abegg und Meinrad Huser oder eine Debatte mit sechs Vertretern der Bau- und Immobilienwirtschaft über die Ökonomie des zirkulären Bauens. Manches davon (wie die Diskussion ums „juristische Neuland“) ist vielleicht etwas arg auf die Eidgenossenschaft bezogen, der Großteil der Diskussionen lässt sich aber auch aus nicht-schweizerischer Perspektive mit Gewinn lesen.
Nicht zuletzt seien auch die Essays von Eva Stricker und Ákos Moravánszky zur Geschichte der Wiederverwendung in der Architektur zu nennen, die zu lesen alleine die Anschaffung dieses Buchs lohnen. Von der Beutekunst in Form von Spolien in der antiken und mittelalterlichen Architektur über die völlig selbstverständliche Wiederverwendung von Abrissmaterialien wird hier der große, historische Bogen für eine Baupraxis geschlagen, die erst von der Wegwerfmentalität des 20. Jahrhunderts marginalisiert wurde. Mit leichter Hand ziehen die zwei Texte Verbindungslinien zwischen der Basilika San Marco in Venedig und Frank Gehrys Haus in Santa Monica, zwischen Hearst Castle und der „Freiluftbibliothek Lesezeichen Salbke“ in Magdeburg, oder zwischen den theoretischen Positionen von Alois Riegl, Hermann Czech, Charles Jencks und zurück zu Josef Frank. Wie eine Achterbahnfahrt rasen die beiden Texte durch die Architekturgeschichte, wild, bunt und atemberaubend schnell. Großartig.
In seinem Epilog schreibt der Architekt Andreas Sonderegger (Co-Leiter des Instituts Konstruktives Entwerfen der ZHAW und Gründungspartner von pool Architekten), „die Erfahrung, an diesem Forschungs- und Publikationsprojekt mitzuwirken“, habe das Denken aller Beteiligten „grundlegend verändert“. Für die Lektüre dieses Buches darf das selbe gelten. Wann hat ein Buch zuletzt so etwas von sich behaupten können? Die Grafik hält das überbordende Material geschickt und übersichtlich unter Kontrolle. Die opulente Ausstattung inklusive dreier (!) Lesebändchen ist da nur noch die Kirsche auf der Torte.
Text: Florian Heilmeyer
Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen
Institut Konstruktives Entwerfen der ZHAW, Eva Stricker, Guido Brandi, Andreas Sonderegger, baubüro in situ, Zirkular GmbH, Marc Angst, Barbara Buser, Michel Massmünster (Hg.)
344 Seiten
Park Books, Zürich 2021
ISBN 978-3-03860-259-0
58 Euro
Zum Thema:
Die Mitherausgeberin Zirkular GmbH, als Fachplanungsunternehmen für Recycling eine Tochter des baubüro in situ, steht auf der Baunetz-Shortlist für 2022 in der BAUNETZWOCHE#589
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