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02.10.2023

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Grundsätzlich hinterfragen

Ein Kommentar anlässlich der Verzögerungen beim Berliner Einheitsdenkmal


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Pünktlich zum morgigen Feiertag erklärte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) im Deutschlandfunk, dass für die „Einheitswippe“ derzeit ein genauer Fertigstellungstermin nicht absehbar sei. Für unseren Autor Nikolaus Bernau Anlass genug, das Projekt, das sich nach Entwurf von Milla & Partner seit 2020 im Bau befindet, noch einmal grundlegend zu hinterfragen. Wäre es besser, das Vorhaben jetzt noch zu stoppen? Ein Kommentar zum Tag der Deutschen Einheit.

Von Nikolaus Bernau


Es gibt Projekte, bei denen ist derart der Wurm drin, dass sie am besten abgebrochen werden sollten – selbst wenn das viel Geld kostet. Lehrgeld halt, kennt jede Firmenleitung. Deutsche Politiker und Verwaltungen aber schrecken bekanntlich selbst in krassen Fällen vor dieser Erkenntnis zurück. Egal, wie stark die Einwände, die Kostensteigerungen, die Verzögerungen sind. Hauptsache, man muss nicht zugeben, einen Fehler gemacht zu haben.

Das Einheits- und Freiheitsdenkmal auf dem Schlossplatz ist ein solcher Fall. Es sollte schon x-mal übergeben werden. Fledermäuse, Denkmalpfleger, Techniker, die Komplexität der Schwungmechanik für die Riesenschale, jetzt Materialmangel verhinderten angeblich die Fertigstellung. Angeblich. Denn tatsächlich könnte der Grund ein anderer sein: Praktisch niemand außer den Architekten und den Initiatoren um den einstigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) möchte dieses Projekt noch realisiert sehen. Thierse übt dabei keinen geringen moralischen Druck aus, wenn er sinngemäß behauptet: „Wer dagegen ist, will die Leistungen der Ostdeutschen nicht anerkennen.“

Alle konzeptionellen Einwände gegen die „Einheitswippe“ haben bis heute Bestand: Sie steht am falschen Ort – der Sockel des einstigen „Nationaldenkmals“ für Kaiser Wilhelm I. ist einer der ganz wenigen Orte in der Mitte Berlins, die rein gar nichts mit der Friedlichen Revolution von 1989 zu tun haben, an die dieses Denkmal erinnern soll. Und ihre eindimensionale Neigung nur nach Rechts oder Links, verursacht durch sich in ihr bewegende Menschen, kann unsere Demokratie nur bedingt symbolisieren. Letzteres ist besonders problematisch, denn dieser Zwang zur Polarisierung behauptet letztlich, dass die Mehrheit allein entscheidet. Aber westliche Demokratien zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie den Vorgaben des Rechtsstaats folgen müssen, dass sie Rücksicht auf Minderheiten nehmen und diese nicht wegwippen. Dass Geh- und Sehbehinderte nur in die Mitte der Schale gehen dürfen, sonst aber aus Sicherheitsgründen keinen Anteil haben können an „Bürger in Bewegung“, bestätigt die Eindimensionalität der Botschaft. Ebenso die anmaßende Inschrift: „Wir sind das Volk“. Alle außerhalb der Schale sind also, dem folgend, nicht „das Volk“?

Es geht hier nicht um die Ästhetik – auch wenn der Nicht-Bau dieser Goldschüssel sicher eine Wohltat für die nachgebauten Schlossfassaden wäre. Es geht um die Botschaft, die der Entwurf verkündet: 1989 ging es gerade um die große westliche Idee, dass Demokratie, Rechtsstaat und Rücksicht auf Minderheiten unabdingbar zusammengehören, dass niemand diskriminiert werden soll, dass nicht alle Menschen in eine Schüssel passen müssen, um „das Volk“ zu sein. Nichts davon ist in diesem Denkmalentwurf zu sehen.

Zu schlechter Letzt: Das Denkmal muss wie ein Riesenradiator beheizt werden, damit man bei Kälte nicht ausrutscht. Deutschlands Antwort auf den Klimawandel: wir heizen die Luft. Wie fatal muss ein Projekt hierzulande eigentlich sein, damit es gestoppt wird?

Die Erstveröffentlichung dieses Kommentars erfolgte gestern online und heute, 2. Oktober 2023 in der gedruckten Ausgabe des Tagesspiegels. Die Zweitveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.


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Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

15

maestrow | 06.10.2023 16:33 Uhr

grundsätzliches Hinterfragen

leider wird meist erst wenn es viel zu spät ist die Kritik munter. In diesem Fall ist aber Bernau zugute zu halten, dass er immer schon gegen dieses absurde Monument am falschen Platz angeschrieben hat. Es wird nur nichts nützen. Der Auftrag ist vergeben und das wird jetzt so durchgezogen, komme und koste es was es wolle. Höchstens, dass noch die Mechanik oder der Etat klemmt, oder die Metallbaufirma pleite geht.

14

RBuss | 06.10.2023 10:26 Uhr

So much hate...

Wie bei der Pyramide des Louvre und dem Eiffelturm 100 Jahre zuvor gibt es immer Leute, die gegen etwas Neues sind.

Die Wippe nimmt die Stare aus der Architektur und ersetzt sie durch Dynamik. Es ist kein leichtes Unterfangen und nur wenige Architekten haben es geschafft (z.B. Calatrava), aber es ist die Mühe wert.

Berlin hat Milliarden für andere Dinge verschwendet (Neues Schloss?). Berlin kann es sich leisten, dieses kleine und interessante Projekt zu Ende zu bringen.

13

M. | 04.10.2023 11:46 Uhr

Gebäudetyp "E...

...inheit"

Passt doch ganz gut zur aktuellen Bau- und Architekturdebatte in der alle Lösungsvorschäge letztlich nur ein Ziel haben:
durch Regulierungswut und Bedenkenträgerei Möglichkeiten der sozialunverträglichen Wertschöpfung zu schaffen.

Persönlich gefällt mir die Idee eines ewigen Debattier-, Planungs- und Genehmigungsprozesses als Einheitsdenkmal sehr gut - weiter so!

BANANA statt NIMBY.

12

Hinrich Schoppe | 04.10.2023 10:48 Uhr

Anarcho

Liebe Wippenbefreundete,

erst einmal vielen Dank für die klaren Worte, in der Hoffnung, dass sich irgendwer traut und den Quatsch beendet.

Ansonsten überlässt man den geschichtsträchtigen Ort - der auch mit dem Weg zu einer deutschen Einheit zu tun hat, aber der mit Schwert und Eisen Bismarkscher Lesart - dem vielleicht noch nicht ganz toten Anarchogeist der Berliner.
Dieser hat es ja sogar geschafft der Siegessäule einen völlig anderen Sinn zu geben als dem Grund, aus dem sie gebaut - und umgesetzt! - wurde (die "Ruhmestaten zur gleichen blutige "Einigung" wie das Willi-Ding...).
Da säult jetzt was ganz anderes. Und von der goldigen Else rede ich gar nicht, die das ganze beschirmt.

Also: Freigeben und lasse machen!

11

ulknudel | 04.10.2023 09:07 Uhr

Flussbad vs. Wippe in Berlin (25.06.2021)

Da erinnere ich mich doch glatt an die Baunetz-Meldung von Stephan Becker.
Wie schön könnte Berlin sein, wenn die Stadt in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit leben würde.

10

arcseyler | 03.10.2023 16:52 Uhr

.......

ausgerechnet vor Kaiser Wilhelms Eingangsportal dieses Kinderwippspiel aufzuführen, erinnert an dessen Bemerkungen zum damaligen Reichstagsneubau.
In einer Reihe mit "....what ever it cost" M20 Kulturforum, Bahnhof Stuttgart, Schultes Kanzlererweiterung: Handlungsfähigkeit beweisen, auch im Falschen. Sich durchsetzen , auch gegen die Bevölkerung. So gesehen passt das Kaiserportal als strenger Aufpasser ja doch wieder.

9

M. Pfeifer | 03.10.2023 08:13 Uhr

Architektenkollegen

Ich habe mir jetzt auf Wikipedia die Genese des "Freiheits- und Einheitsdenkmals" nochmal durchgelesen (der Artikel von Nikolaus Bernau sagt ja nicht so viel aus) - unsere Architektenkollegen vom Büro Milla sind jedenfalls mit zu beneiden, seit 2009/2011 kämpfen die für Ihre Idee und versuchen gegen viele Widerstände das Projekt zum Erfolg zu bringen.
Und nun, pünktlich zum 3. Oktober, wird im Baunetz von Kollegen gar ein Baustopp und sogar Projektabbruch gefordert, obgleich der Baufortschritt doch schon so weit ist. Ist das eigentlich ernst gemeint nur oder nur noch Häme und Polemik?

8

Martin Weißer, Architekt, Berlin | 02.10.2023 23:41 Uhr

Danke, Herr Bernau!

Nach anderen und ungleich besseren Projekten die abgebrochen wurden: Ja, stoppt den Unsinn.

7

ep_ | 02.10.2023 22:33 Uhr

Applauso, applauso

und vielen Dank an Nikolaus Bernau! Die Analogien zu dieser verkopften Fehlkonstruktion sind zahlreich. Was tut man, wenn man in eine Sackgasse geraten ist? Man kehrt um oder fährt rückwärts wieder raus.

6

Frankyartyst | 02.10.2023 22:33 Uhr

Einheitswippe

Danke Nikolaus Bernau! Mir aus dem Herzen geschrieben. Es war und ist ein unsägliches Projekt.

5

Cordula Rau | 02.10.2023 20:14 Uhr

Chapeau

Jede(r) nimmt sich selbst mal auf die Schippe ..

4

auch ein | 02.10.2023 17:01 Uhr

architekt

bei diesen zwittern zwischen architektur, kunst, skulptur und zu sehr aufgeladenem inhalt gibt es NIE eine lösung, die meisten werden zum glück zerredet.
hier haben sie es leider nicht geschafft, das komische ding kommt tatsächlich und es ist zu befürchten dass es später kommt, teurer wird und sche...e wird.....

3

flashback | 02.10.2023 16:23 Uhr

Wippe passt...

...zu Fake-Schloss-Fassaden und könnte als "Speakers Plattform" gut für überfällige Debatten rund um Einheit und Ostwertschätzung dienen. Dank halbherziger Erfüllung der 1,5 Grad Klima-Ziele aus Paris brauchen wir auch die Beheizung bald nicht mehr. Berlin wird zur Sahelzone.

2

lollo | 02.10.2023 16:07 Uhr

Erhalt tut uns keinen Abbruch

Jede Menge Körnchen Wahrheit:
Der Sand im Wipp-Getriebe?!

1

Architekt | 02.10.2023 15:54 Uhr

Hinterfragen

Dem Inhalt des Autors ist nichts hinzuzufügen, differenziert, klar und richtig. Baut die Wippe ab!!

 
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Visualisierung Milla & Partner, Freiheits- und Einheitsdenkmal

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