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05.09.2017

Was hat Harvey mit uns zu tun?

Ein Gespräch über Hochwasserschutz


Die Bilder von Harvey und seiner Hinterlassenschaft im Süden der USA wecken verschiedene Assoziationen. Neben allgemeiner Betroffenheit und dem „samesamebutdifferent“-Moment fragen viele, was dagegen zu tun ist und wie wir uns in Europa auf die anstehenden Wetterkapriolen vorbereiten können. Der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Jorg Sieweke und der Urbanist Mark Kammerbauer über Versiegelung, Toleranzgrenzen und Gummistiefel.

Interview: Friederike Meyer


Herr Sieweke, Herr Kammerbauer, die Überschwemmungen von Harvey in Houston und Umgebung sind eine Auswirkung schlechter Stadt- und Raumplanung, darüber sind sich die Experten einig. Welche Fehler wurden gemacht, welche Haltung muss sich ändern?

Mark Kammerbauer: In Houston lassen sich verschiedene „Unterlassungen“ feststellen. Zum einen rasantes Stadtwachstum bei gleichzeitig laxen Verordnungen und daraus folgender massiver Versiegelung. Zum anderen die Wahl der Prioritäten der Hochwassermanagement-Behörden der Stadt und des umliegenden Verwaltungsdistrikts, Harris County. Nach deren Credo können ingenieurtechnische Lösungen allemal die Stadtentwicklung in hochwassergefährdeten Bereichen ermöglichen, da Katastrophen wie durch Harvey ausgelöst „verrückte Zufälle“ seien. Klimaangepasstes Planen sei jedoch „Business-feindlich“ und Retentionsflächen nicht effektiv, sondern „absurd“. Diese Denkweise – wider besseren Wissens – muss sich ändern.

Jorg Sieweke: Venedig versorgte sich in seiner Blütezeit mit maximaler Bevölkerung durch Zisternen (pozzi) unter den Plätzen (campi) mit Trinkwasser allein aus der Regenspende des umgebenden Dachwassers. Öffentliche Brunnen erlaubten, das Wasser aus dem Sandfiltrat wieder hinaufzuholen. Nachdem diese Praxis als veraltet aufgegeben wurde, wurden Grundwasserhorizonte unter der Lagunenstadt angezapft. Die Stadt sank so in 20 Jahren um 30 Zentimeter. Die Effekte dieses „relativen SeaLevelRise“ dominieren als Folge von Öl- und Gas-Extraktion auch in New Orleans den Untergang: Land sinkt schneller als der Meeresspiegel steigt. Eine kausale Haftung nach dem Verursacherprinzip wird nicht verfolgt. Parallel dazu werden die nationalen Hochwasser-Versicherungsprogramme gerade zurückgefahren, viele Hauseigentümer sind nicht versichert. Gleichzeitig leugnen die Regierungen einiger Bundesstaaten (zum Beispiel Virgina) den Klimawandel. Fehlendes Zoning und laxe Umweltstandards exponieren gerade die ärmeren Bevölkerungssteile gegenüber oft unzureichend gesicherten Produktions- und Lagerstätten der Petrochemie. Bei Überschwemmung fürchten die Menschen zu Recht nicht nur das Wasser, sondern vielmehr was sich noch alles darin befinden mag.

Diesen Sommer wurde in Berlin der Katastrophenfall aufgrund von Starkregenüberschwemmungen ausgerufen. Wie sind wir hierzulande auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereitet? 
Jorg Sieweke: Tatsächlich nehmen starke Niederschlagsereignisse zu und die Kanalisation ist dafür nicht dimensioniert. In der Planung geht es nicht mehr um ein möglichst schnelles Ableiten des Wassers, sondern um den verzögerten Abfluss durch schwammartiges dezentrales Rückhalten. Der Berliner Senat erlässt zum Beispiel einen Teil der Abwassergebühr, wenn die Versickerung auf dem eigenen Grundstück möglich ist. Das sind etwa 1 Euro pro Quadratmeter entsiegelte Fläche pro Jahr. Generell gilt: Jede dezentrale Maßnahme wie zum Beispiel das Aufstellen von Regentonnen ist nützlich. Aber auch weniger Alarmismus und ein wenig Geduld sind angebracht: Im Märkischen Sand versickert das Wasser in aller Regel schnell.
 
Mark Kammerbauer: Es gibt die EU-weite Hochwassermanagement-Richtlinie, die ein dreistufiges Verfahren auf kommunaler Ebene vorsieht: die Festlegung von Gebieten mit signifikantem Hochwasserrisiko, die Erstellung von Hochwasserkarten und die Planung für das Hochwasserrisikomanagement. Aktuelle Starkregen- und Hochwasserereignisse betreffen allerdings auch nicht planmäßig erfasste Bereiche. Das wird zu einem Problem für Planer. Nach der Logik des Hochwasserrisikomanagements in Deutschland besteht eine Eigenverantwortung, z.B. der Hauseigentümer. Es gibt hier zwei Ansätze auf der Ebene des Bauwerks: Dry Proofing und Wet Proofing. Der erste Ansatz sieht den „Ausschluss“ des Hochwassers aus einem Bauwerk vor. Das klappt bis zur Toleranzgrenze, die durch den Einfluss des Klimawandels auf Umweltgefährdungen ins Wanken gerät. Der zweite folgt dem Motto „mit der Natur leben“ und gestattet ein Eindringen des Wassers und den Schutz der betroffenen Bereiche eines Bauwerks durch Materialien, die robust sind und eine spätere Reinigung vereinfachen. Auf dieser Basis lässt sich auch eine architektonische Entwurfsstrategie formulieren.

Von welchen Städten und Ländern können wir in Bezug auf Hochwasserschutz und resiliente Stadtplanung lernen?
Jorg Sieweke: Wir können von den Kulturen der Vormoderne lernen: Sie siedelten angepasst an die Topographie des Ortes. Wenn wir planen, müssen wir wieder mehr den Ort und dessen Gegebenheiten respektieren, anstelle ganze Geographien für jedwede Nutzung auf den Kopf zu stellen. Regional angepasste Bauweisen reduzieren Schäden definitiv. Häuser aus Sumpf-Zypressenholz überdauern tagelange Überschwemmung, Pappwände aus dem Baumarkt hingegen führen bei Kontakt mit Wasser zu Totalschäden. Die Niederlande zum Beispiel haben aufgehört, hundertprozentige Garantien auf den baulichen Hochwasserschutz an allen Orten zu geben und gewöhnen die Bevölkerung eher an Evakuierungsroutinen als notwendige Alternative zu noch höheren Deichen. Rotterdams Programm, auch öffentliche Kinderspielplätze als Retentionsbecken einzubeziehen, sorgte für Aufregung. Als Teil der niederländischen Kultur mit dem Wasser zu leben, statt es zu bekämpfen, ist das sinnvoll. In diesem Sinne sollten wir das Wasser nicht verteufeln, sondern ihm tolerant entgegentreten. Gummistiefel kaufen und Schwimmen lernen gehören dazu. Tatsächlich lebensbedrohlich überschwemmte Städte wie Jakarta oder Bangkok sind ein Beispiel für die Toleranz gegenüber Wasser in der Stadt.

Mark Kammerbauer: Da Katastrophen kontextabhängig sind, ist es kaum möglich, über Musterlösungen zu reden. Die Forschungsgemeinschaft hat seit dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 viele neue Erkenntnisse gewonnen, die international bekannt sind. Die Städte müssen sie nur in Betracht ziehen. Ziel muss immer sein, die Verwundbarkeit zu mindern. Das bedeutet im globalen Norden etwas anderes als im globalen Süden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die NGOs und freiwillige Helfer, wo immer sie auch tätig sind.


Zum Thema:

Jorg Sieweke ist Landschaftsarchitekt, Stadtplaner und Leiter der Forschungsinitiative ParadoXity, wo er sich unter anderem mit Modernisierungsverläufen in Deltastädten befasst.
Mark Kammerbauer
ist Urbanist und lehrt derzeit an der Technischen Hochschule Nürnberg. In seinem Buch „Planning Urban Disaster Recovery“ befasst er sich mit den Auswirkungen des Sturms Katrina auf New Orleans.


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Blick vom Weinberg auf die während des Elbehochwassers im Frühjahr 2006 von Elbe und Jeetzel überschwemmte Altstadt von Hitzacker.

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Simbach, 2016: gescheiterter Versuch, das Wasser zu kontrollieren – die Sturzflut 2016 betraf den Bereich unmittelbar entlang des Simbachs.

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Deggendorf, 2017: angepasste Bauweise nach dem Hochwasser 2013 (keine Wohnnutzung im EG).

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Das Betonrelief „PuddleScape“ ist Teil einer Studentenarbeit von Delia Kulukundis aus dem Studio ParadoXcity an der University of Virginia. Sie zelebriert das Thema der Pfütze als Element, in dem das Wasser langsam von der Oberfläche verdunstet.

Das Betonrelief „PuddleScape“ ist Teil einer Studentenarbeit von Delia Kulukundis aus dem Studio ParadoXcity an der University of Virginia. Sie zelebriert das Thema der Pfütze als Element, in dem das Wasser langsam von der Oberfläche verdunstet.

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