Die Worte sind historisch, das Thema aktueller denn je: „Meines Erachtens ist die notwendige Wiedervereinigung oder besser: Neuvereinigung des Wohnens und Werkens ein besonders dringendes Problem.“ Was sich in Hans Scharouns Vorlesungsnotizen vom 23. Juni 1952 lesen lässt, wird ganz ähnlich auch seit Jahren wieder heiß diskutiert: Wohnen und Arbeiten unter einem Dach zu kombinieren. Wer ein solches Zitat an den Anfang eines Buches stellt, das sich in geradezu exzessiver Manier historischer Grundrisse annimmt, der möchte mehr als einfach nur Licht auf ein Kapitel der jüngeren Architekturgeschichte werfen.
In der Tat betonen Markus Peter und Ulrike Tillmann gleich auf der ersten Seite ihrer aufwändig ausgestatteten Publikation, dass es ihnen um nicht weniger geht, als „ein neues Kapitel der Grundrissforschung“ zu schreiben. Sie versuchen am Beispiel von Scharouns großartigen Wohnhochäusern Romeo und Julia (1954–59) in Stuttgart-Zuffenhausen die „Kooperationen von Forschern und Entwerfern und deren Verzweigungen in angrenzende Wissenschaften“ nachzuzeichnen, die einem solchen ambitionierten Bauprojekt zu Grunde liegen. Einerseits agierte Scharoun innerhalb der damaligen Diskurse um Minimalwohnungen, anderseits zeigt gerade das Stuttgarter Beispiel sein ganzes Können, vielfältige Wohnungstypen mit unorthodoxen Grundrissen zu einer herausragenden architektonischen Form zusammenzuführen.
Wer auf Grundrissvergleiche steht und historische Tiefenbohrungen liebt, muss sich Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse. Die Wohnhochhäuser Romeo und Julia 1954–1959 unbedingt besorgen! Auf über 50 Seiten Dünndruckpapier werden gleich zu Beginn des Buches Dutzende Pläne aus dem Planungsprozess ausgebreitet. Sie zeigen die diversen Varianten der beeindruckend komplexen, teils geradezu exzessiv komprimierten Minimalgrundrisse, die Scharoun für das frei finanzierte Bauprojekt entwickelte. Man staunt, wie Scharoun etwa auf 64,99 Quadratmetern Wohnfläche nicht nur eine fünfköpfige Familie unterbringt, sondern den hochgradig minimierten Grundriss sinnvoll in einen Bereich für die Kinder, einen Bereich für die Eltern sowie einen dazwischen liegenden Wirtschaftsteil gliedert – und außerdem eine kleine Arbeitsnische sowie zwei Balkone anbietet.
Neben dem detaillierten Blick auf das historische Planmaterial geht es den Autoren vor allem um inhaltliche Verbindungen. Sie stellen Scharouns Vorlesungen zum historischen Wandel der Wohnhaustypologien vor, diskutieren Alexander Kleins Studien zu Bewegungsabläufen in Minimalwohnungen und widmen den Ordnungsprinzipien „Sägezahn“, „polygonaler Apparat“ und „Multiplizierung“ in Scharouns Entwürfen ausführliche Kapitel. Dabei sind sie immer nahe dran an Scharoun, folgen ihm durch handschriftliche Notizen, versenken sich in Skizzen und spüren seinen Gedanken in all ihren oft schwer verständlichen Begrifflichkeiten vom „Organhaften“, „Geistigen“ oder den „Wesenheiten“ nach.
Letztlich kämpfen sich Peter und Tillmann wohl auch durch all das Material und den esoterischen Nebel von Scharouns Sprache, um Inspiration für ein heutiges Entwerfen zu finden. Die Aktualität von Scharouns Überlegungen wird mit Blick auf aktuelle Bauprojekte wie dem Münchner Wohnbauprojekt von Meili, Peter Architekten mehr als deutlich. Darüber hinaus geht es freilich immer auch um die eingangs zitierte Verbindung von Wohnen und Arbeiten. Scharoun wollte sie durch kleine, präzise positionierte Arbeitsecken ermöglichen, mit denen er produktive Verbindungen zwischen privaten Wohnräumen und den Arbeitsplätzen der Wissensgesellschaft anstrebte. Erstaunlich, dass diese eng bemessenen Nischen genau die richtigen Maße für den Arbeitsalltag individualisierter und zugleich global vernetzter Laptop-Arbeiter*innen haben. Was Scharoun dazu wohl gesagt hätte?
Text: Gregor Harbusch
Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse. Die Wohnhochhäuser Romeo und Julia 1954–1959
Markus Peter und Ulrike Tillmann
232 Seiten
Park Books, Zürich 2019
ISBN 978-3-03860-156-2
58 Euro
Das Buch ist auch in einer englischen Fassung erschienen.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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STPH | 05.03.2020 14:17 Uhr...
vielleicht hat ja Scharoun in der jahrelang erzwungenen Grundrissarbeit an Wohnungen seine Wendigkeit im Kleinen entwickelt, die dann in der Philharmonie förmlich explodiert ist.
Klein ist oft schwieriger als groß.
Auch theoretisch hat er in den erzwungenen Pausen einen weiten Weg der Erkenntnis zurückgelegt der nicht vergebens war. Vor allem in der Tiefe des Konzeptgedankens, von dem die Aufgabe noch grundsätzlicher erfasst und so zu größerer Freiheit führt.
Vielleicht überhaupt der Ursprung des Konzeptgedankens, der in der heutigen Uni Grundlage ist.
Im heutigen Boom wird eher in Bauteilen gedacht.