Sozialer Wohnungsbau, das klingt nach staatlicher Fürsorge für jene, die es schwer haben in Zeiten eines boomenden Immobilienmarktes. Es klingt, als ob „der Staat“ „den Armen“ etwas Gutes tut. Doch zumindest die historische Perspektive auf den Sozialen Wohnungsbau zeigt, dass in ökonomischer Hinsicht primär wohlhabende Menschen von den entsprechenden Fördersystemen profitierten. Eine Transferleistung, die zwar für manche Menschen auch mit niedrigeren Mieten einherging, die langfristig aber vor allem in Richtung einer ohnehin schon privilegierten Klientel verlief. Das ist zusammengefasst die Geschichte hinter dem zweiten Berliner Heft zur Geschichte und Gegenwart der Stadt, das kenntnisreich
Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau aufarbeitet. Vor kurzem ist die dritte, überarbeitete Auflage der Publikation erschienen, die erstmalig 2016 von
Ulrike Hamann und
Sandy Kaltenborn herausgegeben wurde.
Zentraler Baustein des Buches ist eine Analyse von
Andrej Holm, der gründlich aufräumt mit dem Mythos vom Sozialen Wohnungsbau, zumindest was Berlin angeht. Um eine nachhaltige Wohnraumversorgung für benachteiligte Menschen ging es dabei nämlich nur vordergründig. Vielmehr muss man von einem komplexen System der Wirtschaftsförderung sprechen, das es Guterverdienenden erlaubte, dank garantierter Renditen ohne Risiko in Immobilien zu investieren. Nach Ende der Belegungsbindungen steht die Gesellschaft jedoch ohne Gegenleistung dar, wie Hamann und Kaltenborn in ihrer Einführung schreiben. Die ursprünglichen Investitionskosten der Wohnbauten hingegen erstattete sie den Banken und Hausbesitzer*innen über die Jahrzehnte hinweg mit Hilfe von Steuergeldern. Wie Holm sachkundig darlegt, entstand das zugrundliegende Finanzierungssystem für den sogenannten Sozialen Wohnungsbaus natürlich nicht aus dieser einzigen Motivation heraus. Vielmehr entwickelte es sich aus einem Wechselspiel von ökonomischen Rahmenbedingungen, politischen Zielsetzungen und historischen Anomalien. Insbesondere in der Frontstadt West-Berlin, die ja nicht zuletzt auch wirtschaftlich gestützt werden sollte, führte dies zur Hypertrophie einer maximal kostenintensiven Bautätigkeit samt einhergehender Phänomene wie der Kahlschlagsanierung. Mit weitreichenden Folgen bis heute, was übrigens vielen Kritiker*innen des Fördersystems schon vor Jahrzehnten bewusst war, wie das Heft anhand historischer Quellen zeigt.
Nicht zuletzt diesen Folgen verdankt die Publikation auch ihre Entstehung im Umfeld der Mieter*innenproteste der vergangenen zehn Jahre rund um das Kottbusser Tor. Die Konsequenzen der fehlgeleiteten Wohnungsbaupolitik mussten die Menschen dort ganz konkret am eigenen Leib erfahren, als sich die einst gebundenen Mieten quasi über Nacht vervielfachen sollten. Und so bindet ein weiterer substanzieller Teil des Buches die Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus in die Probleme des heutigen boomenden Berlins ein. Der Band versammelt dabei wichtige Argumente gegen die Mär, allein der Markt löse das Problem einer ausreichenden Wohnraumversorgung.
Auch dank ihrer Grundlagenarbeit können die Autor*innen Hoffnung machen, dass die Politik aus den Fehlern der Vergangenheit lernt – vielleicht nicht freiwillig, aber nach dem Erfolg von Initiativen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ umso eindrücklicher. Die um aktuelle Zahlen und ein neues Vorwort erweiterte dritte Auflage zeigt zudem, dass die eigentlich in der Nische anzusiedelnden „Berliner Hefte“ bei dieser Ausgabe offenbar eine große Leserschaft finden. Damit trägt die
Legende vom Sozialen Wohnungsbau angesichts der aktuell sich anbahnenden, neuen politischen Koalitionen weiterhin entscheidend dazu bei, die Sinne wach zu halten.
Text: Stephan Becker
Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau
Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #2
Andrej Holm, Ulrike Hamann, Sandy Kaltenborn
128 Seiten, 3., überarbeitete Auflage
Berliner Hefte, Berlin 2021
ISBN 978-3-946674-01-6
7 Euro
Das Buch wird von Books People Places vertrieben und ist bei Eeclectic zum Preis von 3,99 Euro auch als ePub und PDF erschienen.
Zum Thema:
Anlässlich der Neuauflage findet am Mittwoch, 27. Oktober 2021 um 20 Uhr in der Berliner Buchhandlung Schwarze Risse (Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin-Kreuzberg) eine Veranstaltung mit dem Stadtsoziologen und Mitautor des Hefts, Andrej Holm statt.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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stefan | 27.10.2021 17:09 Uhrdigital
schön, wenn man sich wieder treffen kann,
einer digitalen übertragung wäre ich im fall auch sehr zugeneigt :)
gruss aus zürich