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22.11.2023

Buchtipp: Sigfried Giedion

Die Entstehung des heutigen Menschen. Ein unvollendetes Buchprojekt, 1929-1938


Warum immer bescheiden? Die Entstehung des heutigen Menschen hieß das Buchprojekt, an dem Sigfried Giedion (1888–1968) fast zehn Jahre lang arbeitete. Am Ende aber blieb das Vorhaben unvollendet. Stattdessen folgte der Schweizer Architekturhistoriker 1938 einem Ruf an die Harvard University und landete wenig später mit Space, Time, and Architecture einen internationalen Superbestseller.

Die Fragen, welche Bedeutung der Publikation im Schaffen des Autors zugekommen wäre und was Giedion in seinem Buch zur Architektur mitteilen wollte, konnte Sokratis Georgiadis nun beantworten. Gemeinsam mit Almut Grunewald, Mitarbeiterin des gta Archivs in Zürich, hat Georgiadis die Textentwürfe gesichtet, kommentiert und schließlich doch noch herausgegeben –  vierundneunzig Jahre nachdem Giedion mit dem Werk begonnen hatte.

Das im Zürcher Archiv erhaltene Material ließ sich drei verschiedenen Bänden zuordnen. Dieser Gliederung folgt auch der Aufbau der nun erschienenen, 666 Seiten starken Veröffentlichung. Am weitesten war der erste Teil gediehen, der den Titel „Konstruktion und Chaos“ trägt. Ist dieser Band den Erfindungen und Entdeckungen vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg gewidmet, sollte der darauffolgende Abschnitt „Soziale Bauaufgaben“ behandeln. Nach Georgiadis’ Einschätzung vor allem „eine mehr oder weniger organisierte Materialsammlung“, lassen Giedions Notizen eine Beschäftigung mit moralischen Fragen erkennen. Des Weiteren vermitteln Zeichnungen und Fotografien britischer, französischer sowie deutscher Siedlungsbauten eine Vorstellung von der beabsichtigten Struktur dieses zweiten Kapitels. Noch knapper fällt der dritte Abschnitt „Der herrschende Geschmack“ aus, in dem Giedion insbesondere die populäre Kunst des 19. Jahrhunderts erörtern wollte.

Jedem Band ist Giedions Bildauswahl angehängt und Georgiadis’ Zusammenfassung vorangestellt. Dabei ergänzen und vertiefen die Anmerkungen den einführenden Essay des Herausgebers. Und allein dieser lässt die Lektüre des spätveröffentlichten Buches empfehlenswert erscheinen. Der seit einigen Jahren emeritierte Professor für Architekturgeschichte, der sich seit seiner Dissertation immer wieder mit dem Werk Giedions befasst hat, begegnet dem „einzigartigen Historiker und engagierten Parteigänger der modernen Architektur“ dabei mit größtem Respekt – und scheut trotzdem nicht vor einer kritischen Auseinandersetzung zurück.

Kommen mitunter auch Zweifel auf, inwiefern die versammelten Fragmente eine wirkliche Beurteilung zulassen, wirken die Anmerkungen des Herausgebers an anderen Stellen umso überzeugender. Indem er die Frage nach dem Verständnis des „heutigen Menschen“ thematisiert, macht er nicht nur deutlich, dass Giedion diesen als Europäer verstand. Auch zieht er in Zweifel, dass das von Giedion postulierte Schisma zwischen Denken und Fühlen, das auch Space, Time, and Architecture bestimmt, geeignet sei, um das Leben seit der Erfindung der Dampfmaschine angemessen zu charakterisieren. Nicht allein, dass Georgiadis diese Interpretation als wenig originell beurteilt: „Giedions zentrales Motiv – die Spaltung von Denken und Gefühl –, der scheinbar schwerwiegendste Konflikt der Industrialisierung, ist nicht einmal ansatzweise tauglich, die Lage der arbeitenden Bevölkerung korrekt abzubilden; eher widerspiegelt dieses Motiv Sensibilitäten eines von den tatsächlichen Härten des industriellen Lebens nicht annähernd so stark betroffenen Teils der Bevölkerung, der eher in Kreisen des Bildungsbürgertums zu finden wäre.“

Die insgesamt fünf Bücher, die Giedion während seiner langen und immens einflussreichen Zeit als Generalsekretär der CIAM verfasste, kommen, so Georgiadis, „kommunizierenden Gefäßen“ gleich. Entsprechend hätten die unveröffentlichten Überlegungen aus Die Entstehung des heutigen Menschen Eingang in die Publikation Architektur und Gemeinschaft (1956), vor allem aber in Mechanization Takes Command (1948) gefunden.

Ebenso wie in Mechanization Takes Command spielt die Architektur in den nun edierten Fragmenten eine nur „periphere Rolle“. Die Lektüre lohnt sich trotzdem, auch für Architekt*innen. Obwohl eine Moderne, wie Giedion sie maßgeblich mitgeprägt hat, längst in Ungnade gefallen ist, scheinen etliche ihrer Glaubenssätze im Berufsverständnis von Architekt*innen weiterhin nachzuwirken. Indem das nun herausgegebene Buch gestattet, die Denk- und Arbeitsweise des Historikers, Hochschullehrers und Funktionärs ein bisschen besser zu verstehen, kann es der Profession auch Aufschluss über sich selbst geben.

Text: Achim Reese

Sigfried Giedion. Die Entstehung des heutigen Menschen. Ein unvollendetes Buchprojekt, 1929-1938
Herausgegeben von Sokratis Georgiadis in Zusammenarbeit mit Almut Grunewald
Gestaltung: Studio Krispin Hée
666 Seiten
gta Verlag, Zürich 2023
ISBN 978-3856764487
65 Euro


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