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24.08.2010

Sehnsucht (neun): Andres Lepik

Die BauNetz-Kolumne vor der Biennale


Am kommenden Sonntag, 29. August 2010, öffnet die 12. Architekturbiennale in Venedig ihre Pforten. Das Thema des deutschen Beitrags lautet „Sehnsucht“, und wir nutzen die Gelegenheit, um jede Woche einen Autor über Sehnsucht und Architektur schreiben zu lassen – diese Woche schreibt Andres Lepik über seine Sehnsucht im Bezug auf die Realitätsnähe in der Architektenausbildung:

Princeton, School of Architecture: Die internationalen Studenten der Klasse Elizabeth Diller präsentieren ihre Abschlussarbeit in der thesis-review. Das Thema, dem sie sich fast ein Jahr lang gewidmet haben, ist „Luft“. Es sind einige formal und konzeptionell verblüffende Arbeiten entstanden, präsentiert in hochwertigen Renderings, Animationen und Modellen. Sie reichen von einem ein Kilometer hohen, begehbaren Aviarium mit unterschiedlichen Klimazonen bis hin zu einer städtebaulichen Neuplanung für Havanna, bei der ein ehemaliges Armenviertel komplett mit einer Flughafen-Hotel-Megastruktur überbaut wird.

Angesichts der beinahe totalen Realitätsverweigerung aller Arbeiten, die an diesem Tag vorgestellt werden, frage ich mich: Ist es die retrospektive Sehnsucht nach den Utopien der 60er Jahre, die diese Studenten angetrieben hat? Dazu fehlt ihren Erklärungen allerdings jeglicher politischer Ansatz. Also ist es wohl schlicht Eskapismus, um die deprimierenden Berufsaussichten in der wirtschaftlichen Krise zu überspielen.

In mir steigt während dieser Präsentationen von Anfang an eine ganz andere Sehnsucht auf: Diese Studenten direkt aus der akademischen Isolation ihres Elite-Campus nach Alabama, in das vom leider bereits 2001 verstorbenen Samuel Mockbee gegründete Rural Studio zu verfrachten. Dort könnten sie, wie die anderen Studenten dieses Design-Build-Studios, sich mit den Menschen, die in dieser Region Alabamas zu 40 Prozent unter der Armutsgrenze leben, einmal über die konkreten Bedürfnisse nach Architektur unterhalten. Sie dürften dann, den Spielregeln des Rural Studios folgend, als Gruppe ein gemeinsames Projekt entwickeln, das eine konkrete Verbesserung des Zustands einer Familie oder auch der Gemeinschaft im Ganzen dient. Sie wären mit der Herausforderung konfrontiert, in diesem sozial und ökonomisch problematischen Umfeld selbst Sponsoren für ihr Projekt zu finden, Baumaterialien zu organisieren und am Ende mit ihren eigenen zarten Händen, die bislang wohl überwiegend nur Computertastaturen bedient haben, in einigen Wochen ein Projekt komplett zu realisieren.

Nach einem Jahr hätten sie dann ein praktisches Projekt realisiert und dabei etwas darüber erfahren, was Architektur konkret in einem Umfeld leisten kann, in dem Menschen seit den 30er Jahren in selbstgebastelten Wellblechhütten oder heruntergekommenen Wohnwagen hausen. Meine Sehnsucht wäre es, den Wandel in ihrem Verständnis von der Relevanz ihres Planens miterleben zu können und dann, am Ende, wenn sie als ein Team den bereits über 120 Projekten von Rural Studio noch ein weiteres hinzugefügt haben würden, sie fragen zu dürfen, wie sie jetzt zu ihrer Thesis zum Thema „Luft“ stehen.

Andres Lepik ist Curator am Architecture and Design Department des Museum of Modern Art in New York. Seine Ausstellung „Small Scale Big Change. New Architectures of Social Engagement“ eröffnet im Oktober.

Zuvor haben in unserer „Kolumne der Sehnsucht“ bereits die
Generalkommissare des deutschen Pavillons geschrieben, der Architekturkritiker Bart Lootsma, der Chefredakteur des „Baumeister“, Wolfgang Bachmann, Benedikt Hotze vom BauNetz, der Architekt Arno Lederer, Brigitte Schultz von der Bauwelt und zuletzt der Autor Wolfgang Kil.


Zum Thema:

Download der BAUNETZWOCHE#178 „Sehnsucht”


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