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13.06.2024

Filmtipp: Wir sind der Stau

Der automobile Mensch


Das eigene Auto erscheint für viele Menschen als unverzichtbar, selbst wenn sie nicht körperlich eingeschränkt sind oder am Ende der Welt wohnen. Die individuellen Bedürfnisse hinter die kollektiven zu stellen, das fällt den meisten schwer. Argumente wie CO2-Reduktion, Ressourcenschonung, Umweltschutz, gesunder Lebensraum oder gemeinschaftliche Flächennutzung führen eher zum instinktiven Abwinken als zum Umdenken. Industrie und Politik geben sich dabei nach wie vor die Autoklinke in die Hand und stützen den Status quo. Die Ladesäule ist derzeit ihr beherztester Beitrag zum Klimaschutz.

Diese und weitere Schattenseiten des motorisierten Individualverkehrs – egal ob Verbrenner- oder Elektromotor – führt uns Reinhard Seiß vor Augen. Der österreichische Raumplaner, Filmemacher und Publizist geht in seinem neuen Dokumentarfilm Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege der Frage nach, wie wir uns fortbewegen – und warum wir das tun. Die Reise führt nach Österreich, Deutschland, Luxemburg, Liechtenstein, Südtirol und in die Schweiz.

Es sind Bilder, die wir eigentlich nicht auf der Kinoleinwand, sondern jeden Tag vor der Windschutzscheibe sehen. Gleich zu Anfang reihen sich unzählige Kraftfahrzeuge in eine schleichende, zweispurige Autokolonne ein. Rechts ein Möbelhausparkplatz, links ein Drive-in. Die Stimme des bayerischen Kabarettisten Christian Springer setzt ein: „Was glauben denn Sie: Schaffen wir die Klimaziele noch? Ich bin da eher skeptisch. Denn ganz ehrlich: Haben Sie schon was in Ihrem Leben geändert?“ Stets sachlich, manchmal ironisch, ja fast verschmitzt begleitet uns der Sprecher ganze 400 Filmminuten. Der „modulare“ Film, der als Co-Produktion der Vereine Urban+, Polis und Civitas entstand, kann aus diversen Kapiteln frei zusammengestellt werden. Je nach geografisch-thematischem Schwerpunkt entstehen so meist 120-minütige Streifen.

Da wären etwa Klagenfurt – die älteste Fußgängerzone Österreichs – oder Lienz in Osttirol mit „mutigen Ansätzen“ eines autofreien Zentrums. Dazwischen zeigt sich die Absurdität einer Strip Mall im Altstadtlook oder der Flächenfraß unzähliger Gewerbe-Speckgürtel. Beim Kapitel zu Niederösterreich weiß man vor lauter Realsatire nicht, ob man nicht doch im neuesten Film von Josef Hader gelandet ist. Aber egal, ob fiktiv oder dokumentarisch: Die asphaltierte Straße ist unser Lebensraum. Sie wird gebaut, ob wir sie brauchen oder nicht.

Positiv- und Negativbeispiele reihen sich im Film wie im Reißverschlussverkehr – oftmals am gleichen Ort. Wir sehen die Eisenbahn mitten durch die Straßen von Zürich oder Chur fahren, wir radeln mal schlecht mal recht durch Wien oder Bremen und beobachten gelungene Beispiele der Erschließung im ländlichen Raum, sei es in Graubünden, Oberösterreich oder Niedersachsen. Nirgends hat das ökologische Doppelleben mehr Platz als in Berlin-Prenzlauer Berg. Und wer die Logik der Ampelschaltung in der deutschen Stauhauptstadt München entschlüsselt hat, ist wirklich ein Genie.

Mit großer Ortskenntnis fassen die Kapitel die Quintessenz typischer Mobilitätsmuster zusammen. Dazu geben Expert*innen und Betroffene Einblicke oder Lösungsansätze preis. Warum das Elektroauto keiner davon ist, wie eine kluge Nutzungsmischung im Gebäude und sogar auf der Schiene funktioniert, was Architektur mit Verantwortung und unserem Mobilitätsverhalten zu tun hat oder wie uns reihenweise Greenwashing begegnet. „Glauben die wirklich, dass das bisschen Moos auf dem Dach das Gebäude ökologischer macht?“ Von den so gewitzten wie wichtigen Botschaften in dieser Dokumentation sollte man sich unbedingt selbst überzeugen.

Text: Sabina Strambu

Der automobile Mensch –
Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege

Reinhard Seiß
Dokumentation
Österreich, 2024
Deutsch
modular, zwischen 90 und 180 Minuten

Filmvorführungen in Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gibt es von Juni bis Oktober an verschiedenen Orten. Informationen unter urbanplus.at. Termine in Deutschland sind in Planung.


Zum Thema:

Dokumentarfilme und Beiträge zur „Mobilität der Zukunft“ versammelt auch der Kultursender arte in seiner Mediathek.

Ein Blick in Mobilitätskonzepte weltweit sowie den kreativen Konflikt zwischen Automobil und Architektur haben wir jeweils in einem Buchtipp vorgestellt.

Bereits 2018 erschien die BAUNETZWOCHE#507 „Abgefahren. Wege zur Mobilität“.


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