Es ist viel los in Berlins historischer Mitte und das auch in städtebaulicher Hinsicht. In politischen und planerischen Auseinandersetzungen wird anhaltend um die Entwicklung des Gebiets rings um den Fernsehturm gerungen: Dabei ist der Molkenmarkt das wohl derzeit umstrittenste Entwicklungsprojekt der Hauptstadt. Auch die Neugestaltung des Marx-Engels-Forums war kaum weniger problematisch, bis diese 2021 schließlich in einem Wettbewerbsverfahren entschieden wurde. Beim Humboldt Forum schlossen sich selbst nach Fertigstellung zahlreiche Protestaktionen an, und der Neubau der Berliner Bauakademie wird nun schon seit über 30 Jahren diskutiert und vorbereitet. Auch die Entwicklung des Hauses der Statistik oder die Hochhausplanung am Alexanderplatz gehören in diese Aufzählung. Alles in allem ergibt sich ein unübersichtliches Gemenge an politischen Programmen, Planvorschlägen, Beschlüssen und Verfahren.
Doch in welchem städtebaulichen Kontext finden die aktuellen Bemühungen der Stadtentwicklung statt? Auf welche vorhandenen räumlichen Strukturen beziehen sie sich? Antworten darauf liefert der Berliner Historiker und Journalist Matthias Grünzig in seinem jüngst erschienenen Buch Der Fernsehturm und sein Freiraum. Geschichte und Gegenwart im Zentrum Berlins. Als sogenanntes Schaufenster der DDR war der Fernsehturm und dessen Umgebung bis zur Wiedervereinigung Deutschlands ein zentraler städtebaulicher Raum, an dessen Entwicklung seinerzeit extreme Erwartungen geknüpft waren. Bis hierher würden die meisten die Geschichte kennen, doch kaum jemand wisse, wer die Planer des Gebiets waren, welche Intentionen sie verfolgten und welche politischen Entscheidungen die Planung beeinflusst haben – diese These formuliert der Autor einleitend und macht sie zur Grundlage seiner Studie.
Was folgt, ist eine detaillierte Aufschlüsselung damaliger Ereignisse, Entscheidungs- und Entwurfsprozesse, die die städtebaulichen Maßnahmen im Zentrum Berlins bestimmten oder damit in Verbindung standen. Chronologisch skizziert Grünzig den Planungsverlauf des Fernsehturms und dessen Umgebung von der ersten Idee eines Turms im Volkspark Friedrichshain 1961 bis zur Realisierung des Gesamtvorhabens 1987. Eine erste wichtige Erkenntnis ist dabei, dass der Fernsehturm kein isoliertes Bauvorhaben war. Stattdessen war er Teil eines Ensembles zu dem neben den Rathauspassagen auch der Komplex Karl-Liebknecht-Straße, die Sanierung der Marienkirche, das Nikolaiviertel, die Freiraumgestaltung sowie weitere inzwischen abgerissene Bauten gehörten. Jedem dieser Elemente ist ein eigenes Kapitel im Buch gewidmet.
Grünzig erzählt von „fieberhaften Planungstätigkeiten“ einer Vielzahl von Architekten und Planern (darunter Gerhard Kosel, Hermann Henselmann, Hans Schmidt oder Hanns Hopp), er stellt konkurrierende Visionen nebeneinander und verweist auf bestehende Rivalitäten. Letztendlich sei es eine „tollkühne Aktion“ Gerhard Kosels im Vorfeld der entscheidenden Politbürositzung gewesen, die zur finalen Standortwahl des Ensembles führen sollte. Weiter berichtet Grünzig über Plananpassungen aufgrund fehlenden Geldes oder wegen des anhaltenden Widerstands gegen die „Abrissfreude“ der Zentrumsplaner.
Bei der Lektüre fällt einmal mehr die Diskrepanz auf, die zwischen der komplexen Geschichte des Ortes und aktuellen Planungsdebatten herrscht. Während Entwicklungsvorhaben heute häufig eine historische Rekonstruktion im Fokus haben und von Stadtgrundrissen von vor 100 Jahren fantasieren, war Berlins historische Mitte einmal Ort städtebaulicher Utopien, Fortschrittsbegeisterung und radikaler Visionen einer modernen Stadt. Und so liest sich das Buch (gewollt oder ungewollt) nicht nur als eine historische Abhandlung, sondern auch als eine Anregung, zukunftsorientierte räumlich-architektonische Visionen zu entwickeln.
Text: Sophie Marthe
Der Fernsehturm und sein Freiraum. Geschichte und Gegenwart im Zentrum Berlins
Matthias Grünzig
280 Seiten
Lukas Verlag, Berlin 2022
ISBN 978-3-86732-381-9
29,80 Euro
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